Jack McEvoy 01 - Der Poet
schnell Karriere, bis sie in der Abteilung ist, die sich mit Leuten wie ihrem Vater beschäftigt. Und wie ihr selbst. Verstehen Sie, ihr ganzes Leben war ein einziges Bemühen um Verstehen! Und als ihr Vorgesetzter will, dass die Selbstmorde von Polizisten untersucht werden, gibt er ihr den Job, weil er die offizielle Version über den Tod ihres Vaters kennt. Nicht die Wahrheit. Nur die offizielle Story. Sie nimmt an, obwohl sie weiß, dass der Grund, aus dem sie ausgewählt wurde, der Wahrheit nicht entspricht.«
Hier brach ich ab. Je mehr ich erzählte, desto mehr Macht empfand ich. Das Wissen um die Geheimnisse eines anderen Menschen ist eine berauschende Macht. Ich schwelgte in meiner Fähigkeit, alle Teile zusammenzufügen.
»Und wie«, flüsterte Backus, »ist dann alles auseinander gebrochen?«
»Alles lief bestens«, fuhr ich fort. »Sie heiratete ihren Partner, und alles lief bestens. Aber irgendwann ging es dann nicht mehr so gut. Ich weiß nicht, ob es der Druck im Job war, die Erinnerungen, das Scheitern dieser Ehe, vielleicht alles zusammen. Sie begann, innerlich zu zerbrechen. Ihr Mann verließ sie, hatte das Gefühl, dass sie gefühllos, geradezu leer war. Die Painted Desert hat er sie genannt, und sie hasste ihn deswegen. Und dann ... Vielleicht erinnerte sie sich wieder an das Gefühl, das sie verspürt hatte, nachdem sie ihren Peiniger getötet hatte. Ihren Vater. Und sie erinnerte sich an den Frieden danach - die Befreiung.«
Ich sah Backus an. In seinen Augen lag ein abwesender Ausdruck.
»Eines Tages«, fuhr ich fort, »wird ein Profil angefordert. In Florida ist ein Junge ermordet und verstümmelt worden. Der ermittelnde Detective möchte ein Profil der Person, die das getan hat. Aber sie weiß, wer dieser Detective ist, kennt seinen Namen, Beltran. Ein Name aus der Vergangenheit. Ein Name, der vielleicht in einem früheren Interview gefallen ist. Sie weiß, dass auch er ein Peiniger war, ein Kinderschänder wie ihr Vater, und dass das Opfer, wegen dem er angerufen hat, wahrscheinlich sein Opfer war ...«
»Richtig«, sagte Backus, den Faden aufgreifend. »Also fliegt sie nach Florida, zu diesem Mann, und tut es abermals. Genau wie bei ihrem Vater. Lässt es wie Selbstmord aussehen. Sie wusste sogar, wo Beltran seine Schrotflinte versteckt hatte. Das hatte ihr Gladden erzählt. Wahrscheinlich war es überaus einfach, an ihn heranzukommen. Sie fliegt nach Florida, zeigt ihren FBI-Ausweis vor, geht mit ihm ins Haus und tut es. Es bringt ihr wieder Frieden. Füllt diese Leere. Das Problem ist nur, dass es nicht von Dauer ist. Bald ist sie wieder ausgelaugt, und sie muss es abermals tun. Und dann wieder und wieder. Sie folgt dem Killer, Gladden, und bringt diejenigen Männer um, die hinter ihm her sind, benutzt ihn, um ihre Spuren zu verwischen, bevor sie überhaupt welche hinterlassen hat.«
Backus starrte beim Sprechen mit leerem Blick auf irgendeine Vision.
»Sie kannte alle Feinheiten, alle Kniffe«, sagte er. »Wie sie das beschichtete Kondom in Orsulaks Mund abgewischt hat. Das perfekte Ablenkungsmanöver. Das war wirklich genial.«
Ich nickte.
»Sie hatte Gladdens Zelle gesehen und wusste, dass es in den Akten ein Foto gab, das eines Tages vielleicht gefunden werden würde«, sagte ich. »Sie wusste, dass die Bücher von Poe auf dem Foto zu sehen waren. Sie hat alles genau geplant. Sie folgte Gladden durchs ganze Land. Sie wusste durch das Material, das zum Erstellen von Profilen einging, welches die Morde waren, die er begangen hatte. Sie konnte sich in ihn hineinversetzen. Sie folgte ihm. Brachte den Cop um, der hinter ihm her war. In jedem Fall ließ sie es wie Selbstmord aussehen, hätte aber Gladden die Morde anlasten können, falls ihr irgendwann jemand auf die Schliche gekommen wäre.«
Backus sah mich an.
»Jemand wie Sie«, sagte er.
»Ja. Jemand wie ich.«
49
Backus sagte, die Geschichte gliche einem Bettlaken, das, mit nur wenigen Klammern befestigt, bei starkem Wind an einer Leine hängt. Jeden Augenblick kann es davonfliegen.
»Wir brauchen mehr Beweise, Jack.«
Ich nickte.
Er war der Fachmann. Außerdem hatte der wahre Prozess bereits in meinem Herzen stattgefunden, und das Urteil war gefällt.
»Was wollen Sie unternehmen?«, fragte ich.
»Das überlege ich gerade. Sie hatten ... Zwischen Ihnen bestand eine intime Beziehung?«
»War das so offensichtlich?«
»Ja.«
Dann sagte er eine Minute lang gar nichts. Er wanderte umher, ohne etwas wirklich anzusehen,
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