Jack McEvoy 01 - Der Poet
Warren mir heute bestätigt, dass Thorson nicht sein Informant gewesen ist. Er hatte keinen Grund mehr, mich anzulügen. Thorson war tot.«
»Und was ist der dritte Punkt?«
»Ich glaube, Rachel hat über ihren Computer eine Verbindung zum PTL Network hergestellt. Ich weiß nicht, woher sie bereits darüber informiert war. Vielleicht hat irgendjemand dem FBI einen Tipp gegeben. Keine Ahnung. Jedenfalls hat sie sich eingeklinkt. Vielleicht um eine dieser Eidolon-Dateien zu übermitteln, die Clearmountain gefunden hat. Auch das wäre wieder Beweismaterial gewesen, das Gladden mit den Morden des Poeten in Zusammenhang brachte. Sie machte alles hieb- und stichfest. Selbst wenn ich ihn nicht getötet und er vor Gericht alles abgestritten hätte, wäre die Beweislast erdrückend gewesen. Niemand hätte ihm geglaubt, zumal in Anbetracht der Morde, die er tatsächlich begangen hat.«
Ich legte eine Verschnaufpause ein, damit Backus das bisher Gesagte verdauen konnte.
»Alle drei Anrufe wurden von Thorsons Zimmer aus gemacht«, fuhr ich nach einer Weile fort. »Eine weitere Absicherung. Wenn irgendetwas schief ging, würde nichts darauf hindeuten, dass sie telefoniert hatte. Aber die Geschichte mit den Kondomen hat sie entlarvt. Sie wissen genau, in welchem Verhältnis sie zu Thorson stand. Er fühlte sich nach wie vor zu ihr hingezogen, und das wusste sie und nutzte es aus. Sie wusste, wenn sie ihn aufforderte, Kondome zu besorgen, würde er zur Tür hinaus und zum Drugstore rennen, wie ein Mann mit Hornissen in der Hose. Und ich glaube, dass sie genau das getan hat. Nur hat sie nicht in seinem Bett auf ihn gewartet. Sie hat stattdessen telefoniert. Und als Thorson dann zurückkam, war sie verschwunden. Das hat er nicht direkt erzählt, aber angedeutet hat er es. An dem Tag, an dem ich ihn begleitet habe.«
Backus nickte. Er sah schrecklich aus. Vielleicht stand ihm gerade vor Augen, was jetzt aus seiner Karriere werden würde. Zuerst das Fiasko bei Gladdens Verhaftung, und nun das. Seine Tage als stellvertretender Special Agent waren vermutlich gezählt.
»Das scheint alles so ...«
Er beendete den Satz nicht. Es gab noch mehr zu berichten, aber ich wartete ab. Backus stand auf. Er schaute zur Balkontür hinaus auf den Marlboro Man. Die Figur schien ihn nicht sonderlich zu faszinieren.
»Erzählen Sie mir vom Mond, Jack.«
»Was meinen Sie damit?«
»Vom Mond des Poeten. Sie haben mir den Schluss der Geschichte erzählt. Wie lautet der Anfang? Wie ist Rachel zu solch einer Frau geworden?«
Er wandte sich von der Tür ab und sah mir herausfordernd in die Augen. Er suchte etwas, irgendetwas, das es ihm ermöglichen würde, dies alles nicht glauben zu müssen. Ich räusperte mich.
»Das ist eine harte Geschichte«, sagte ich. »Sie sollten Brass danach fragen.«
»Später. Erzählen Sie es mir.«
Ich dachte einen Moment lang nach, bevor ich weiterredete.
»Sie war ein junges Mädchen, vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt. Sie wird von ihrem Vater sexuell missbraucht. Die Mutter hat entweder ... Ihre Mutter verschwindet. Sie hat entweder gewusst, was vorging, und konnte es nicht verhindern, oder es war ihr gleichgültig. Sie verschwindet, und das Mädchen bleibt allein mit ihm zurück. Er ist Polizist. Detective. Er droht ihr, redet ihr ein, dass sie es nie jemandem sagen kann, weil er Detective ist und es herausbekommen würde. Er behauptet, niemand würde ihr die Geschichte abnehmen, und sie glaubt ihm.
Und eines Tages hat sie genug, endgültig genug. Sie erschießt ihn und lässt es so aussehen, als hätte er es selbst getan. Selbstmord. Sie kommt damit durch. Ein Detective, der diesen Fall bearbeitet, ahnt, dass etwas nicht stimmt, aber was soll er tun? Er weiß, dass der Mann es herausgefordert hat. Er lässt es auf sich beruhen.«
Backus stand in der Mitte des Zimmers und starrte auf den Fußboden.
»Ich weiß über ihren Vater Bescheid. Das heißt, ich kenne die offizielle Version.«
»Ich habe einen Freund gebeten, die Details der inoffiziellen Version herauszufinden.«
»Und wie ging es weiter?«
»Es ging damit weiter, dass sie aufblühte. Die Macht, die sie in jenem Augenblick besessen hatte, wog eine Menge Dinge auf. Sie kommt darüber hinweg. Das gelingt nur wenigen, aber sie schafft es. Sie ist intelligent, sie geht zur Universität, um Psychologie zu studieren, um etwas über sich selbst zu lernen. Und dann wird sie sogar vom FBI eingestellt. Sie leistet hervorragende Arbeit und macht
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