1537 - Der Schlafwandler
Genau das werde ich auch! Deborah nickte vor sich hin, als sie daran dachte. Der Gedanke bereitete ihr keine Angst. Sie hatte sich lange genug mit dem Tod beschäftigt. Alles war ein ständiges Kommen und Gehen, und sie wollte das Gehen beschleunigen.
Sie lächelte und sah ihr Gesicht dabei als schwachen Umriss in der Fensterscheibe. Auf das Ende hatte sie sich gut vorbereiten können und sie war auch vorbereitet worden. Es würde überhaupt nicht schlimm werden, das hatte ihr Karel versprochen.
Er war ihr Begleiter, ihr Mentor, und er war ein Mensch, der nur in der Nacht kam. Wenn andere Menschen schliefen, begann seine Zeit. Dann wandelte er durch die Dunkelheit und besuchte diejenigen, die es wollten.
Karel war eben außer-und ungewöhnlich. Und er war ein Mensch, der seine Versprechen hielt. Auf ihn konnte man sich hundertprozentig verlassen.
Deborah Crane änderte ihre Blickrichtung. Jetzt schaute sie schräg in die Höhe, weil sie den Himmel suchte, der wie eine dunkle Platte hoch über ihr lag.
Aber die Platte hatte auch ein Loch. Kreisrund war es in die Schwärze geschnitten. Doch wer ganz genau hinschaute, musste seine Meinung ändern. Es war kein runder Ausschnitt im Himmel, sondern einfach nur der volle Mond, der auf die Erde nieder glotzte, als wollte er die gesamte Welt mit seinem Auge beobachten.
Vollmond war eine gute Zeit, um zu sterben, und Deborah wusste auch, wie sie sterben und welchen Weg sie nehmen würde. Es war ja nicht so weit. Nur wenige Schritte durch die Natur gehen und dann langsam dem Tod entgegen schreiten.
Perfekt…
Sie drehte sich um. Auf dem Tisch stand noch die Kanne mit dem Tee.
Er war mittlerweile kalt geworden, aber sie gönnte sich trotzdem noch einen Schluck und spürte auch, dass er ihr gut tat. Kalt rann er ihre Kehle hinab, und sie lächelte sich in der Scheibe erneut zu, diesmal mit der Tasse in der Hand. Es sollte der letzte Sehluck in ihrem Leben werden.
Wann kam er?
Als sie die Teetasse abstellte, klopfte es an der Tür, und sie zuckte zusammen. Sie wusste jetzt, dass er da war. Kein Fremder hätte sich hierher verirrt und an die Tür geklopft. Karel hatte sein Versprechen gehalten.
Sie wollte rufen, dass die Tin nicht verschlossen war, doch da hatte er sie schon geöffnet und trat ein.
Karel war ein hoch gewachsener Mann mit eckigen Schultern. Er war mit einem Mantel bekleidet, der In der Mitte mit einem Gürtel zusammengehalten wurde. Unter dem Mantel trug er ein helles Hemd oder einen dünnen Pullover.
Sein Gesicht war markant geschnitten. Man konnte es nicht mehr vergesseil, wenn man es einmal gesehen hatte. Hager, aber nicht eingefallen, mit einer kräftigen Nase, einem breiten Mund, einem eckigen Kinn, zurückgekämmten, graublonden Haaren und Augen, deren Glanz sich Deborah nicht hatte entziehen können.
Sie ging davon aus, dass sie nicht die einzige Person war, der das nicht gelang. Diese Augen hatten Charisma. Sie steckten voll innerer Kraft, und die Frau wusste, dass dieser Mensch seinen Blick wechseln konnte, ganz wie es ihm beliebte.
Er hatte das Besondere an sich. Wenn ein Mensch wie er auf einer Party erschien, waren alle anderen zu Statisten degradiert. Da gab es dann nur ihn, und ihm gebührte die alleinige Aufmerksamkeit aller. Ganz besonders die der weiblichen Gäste, die sich seiner Faszination nicht entziehen konnten.
So war es auch Deborah Crane ergangen. Sie hatte sich einfach fallen lassen. Sie war in den Augen versunken, und sie hatte von ihm so wunderbare Dinge gehört. Er genoss ihr vollstes Vertrauen, sie war ihm hörig. Er hätte mit ihr alles anstellen können, doch er hatte die Lage nicht ausgenutzt. Es ging ihm um etwas anderes. Er wollte sich nicht sexuell befriedigen und die Frauen auch nicht.
Er redete mit ihnen, und er hatte auch sehr intensiv mit Deborah gesprochen.
Jetzt hatte er das kleine Haus betreten, und sie sah ihn auf sich zu kommen.
Er ging nicht, er schwebte. Als gäbe es zwischen seinen Füßen und dem Boden ein Luftkissen. Es war seine Art, so zu wandeln, als wollte er sich damit von den anderen Menschen abheben. Niemand sollte ihm dabei zu nahe kommen. Er war derjenige, der die Zeichen setzte, ihm musste man einfach folgen. Wer ihn zum ersten Mal sah, der hätte ihn auch für einen Schlafwandler halten können, der in seinem Zustand sogar in der Lage war, sich sicher auf irgendwelchen Dachfirsten zu bewegen.
Deborah kannte ihn nicht näher und auch noch nicht lange, doch sie hatte sich seiner
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