Jack Reacher 01: Größenwahn
tut so, als habe sie nicht gewußt, was vor sich ging, und die andere Hälfte sei fuchsteufelswild, weil ihre tausend Dollar die Woche jetzt nicht mehr kommen. Du hättest den alten Eno sehen sollen, als ich das Essen holte. Er sah aus, als wäre er ziemlich wütend.«
»Ist Finlay beunruhigt?«
»Er ist okay. Fleißig natürlich. Wir haben jetzt nur noch vier im Police Department, Finlay, mich, Stevenson und den Innendienstler. Finlay sagt, das sei halb soviel, wie wir brauchten, wegen der Krise, und doppelt soviel, wie wir uns leisten könnten, weil es keine Stiftungssubventionen mehr gibt. Jedenfalls kann weder eingestellt noch entlassen werden ohne die Billigung des Bürgermeisters, und wir haben ja keinen Bürgermeister mehr, nicht wahr?«
Ich saß auf dem Bett und aß. Die Probleme fingen an, mich zu überwältigen. Ich hatte sie vorher nur nicht richtig klar gesehen. Aber jetzt sah ich sie. Eine riesige Frage wuchs in meinem Kopf heran. Es war eine Frage an Roscoe. Ich wollte sie ihr gleich stellen und ihre ehrliche, spontane Antwort bekommen. Ich wollte ihr keine Zeit geben, über die Antwort nachzudenken.
»Roscoe?«
Sie blickte zu mir hoch. Wartete.
»Was wirst du tun?« fragte ich sie.
Sie sah mich an, als wäre das eine seltsame Frage.
»Mir den Arsch aufreißen, schätze ich. Wir werden eine Menge Arbeit haben. Wir werden die ganze Stadt wieder aufbauen müssen. Vielleicht können wir etwas Besseres daraus machen, etwas Sinnvolles erschaffen. Und ich kann eine große Rolle dabei spielen. Ich werde dem Totempfahl noch ein paar Kerben zufügen. Ich bin wirklich aufgeregt. Ich freue mich drauf. Dies ist meine Stadt, und ich werde wirklich mitwirken. Vielleicht komme ich in die Stadtverwaltung. Vielleicht kandidiere ich als Bürgermeisterin. Das wäre doch ein Ding, oder? Nach all diesen Jahren eine Roscoe statt eines Teales als Bürgermeister?«
Ich sah sie an. Es war eine großartige Antwort, aber es war die falsche. Falsch für mich. Ich wollte nicht versuchen, ihre Meinung zu ändern. Ich wollte keinerlei Druck auf sie ausüben. Deshalb hatte ich sie gefragt, bevor ich ihr sagte, was ich tun mußte. Ich wollte ihre ehrliche, ungezwungene Antwort. Und die hatte ich bekommen. Es war richtig für sie. Dies war ihre Stadt. Wenn irgend jemand hier aufräumen konnte, dann sie. Wenn irgend jemand hierbleiben und sich den Arsch aufreißen sollte, dann sie.
Aber es war die falsche Antwort für mich. Denn da wußte ich schon, daß ich gehen mußte. Ich wußte da schon, daß ich schnell verschwinden mußte. Das Problem lag darin, was als nächstes passieren würde. Die ganze Sache hatte sich ausgeweitet. Vorher war es nur um Joe gegangen. Es war eine Privatsache gewesen. Jetzt war sie öffentlich. Sie war wie diese angesengten Dollarnoten. Sie war über die gesamte Gegend verteilt.
Roscoe hatte den Gouverneur erwähnt, das Finanzministerium, die Nationalgarde, die Staatspolizei, das FBI, die Feuerexperten aus Atlanta. Ein halbes Dutzend kompetenter Institutionen sah auf das, was in Margrave geschehen war. Und sie würden genau hinsehen. Sie würden Kliner zum Fälscher des Jahrhunderts erklären. Sie würden herausfinden, daß der Bürgermeister verschwunden war. Sie würden herausfinden, daß vier Polizisten mit drinsteckten. Das FBI würde nach Picard suchen. Interpol würde wegen der Verbindung nach Venezuela eingeschaltet werden. Die Aufregung würde gewaltig sein. Sechs Institutionen würden wie verrückt miteinander wetteifern, um Ergebnisse zu erzielen. Sie würden die ganze Gegend umkrempeln.
Und der eine oder andere würde mich da hineinziehen. Ich war ein Fremder, der zur falschen Zeit am falschen Ort war. Sie würden nur eineinhalb Minuten brauchen, um zu bemerken, daß ich der Bruder des toten Regierungsbeamten war, der mit der ganzen Sache angefangen hatte. Sie würden sich meinen Lebenslauf ansehen. Irgend jemand würde an Rache denken. Ich würde verhaftet und dann von ihnen in die Mangel genommen werden.
Ich würde nicht verurteilt werden. Das Risiko bestand nicht. Es gab keine Beweise. Ich war bei jedem meiner Schritte vorsichtig gewesen. Und ich wußte, wie man Geschichten erzählt. Sie konnten mit mir reden, bis ich einen langen, weißen Bart hatte, und sie würden doch nichts aus mir herauskriegen. Soviel war sicher. Aber sie würden es versuchen. Sie würden es wie verrückt versuchen. Sie würden mich zwei Jahre in Warburton festhalten. Zwei Jahre oben im U-Haft-Trakt. Zwei Jahre
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