Jack Reacher 09: Sniper
Sie Glück. Das Urteil könnte aufgehoben werden. Sie könnten aus dem Gefängnis befreit oder begnadigt werden, es könnte eine Revolution oder ein Erdbeben geben.«
»Unwahrscheinlich.«
»Sehr«, bestätigte Reacher. »Aber ist das nicht Ihre Art? Sind Sie denn nicht ein Mensch, der die allergeringste Chance, noch eine weitere Minute zu leben, ergreift, statt sich mit überhaupt keiner Chance zufriedenzugeben?«
Schweigen.
»Sie haben mir schon einmal geantwortet«, sagte Reacher. »Als Sie das Geburtstagsspiel am zwölften Oktober beendet haben. Das war ziemlich schnell. Der Oktober hat einunddreißig Tage. Nach dem Wahrscheinlichkeitsprinzip hätte Ihnen bis zum Fünfzehnten oder Sechzehnten nichts passieren können. Eine Spielernatur hätte bis zum Zwanzigsten gewartet. Aber Sie sind nicht über den Zwölften hinausgekommen. Nicht etwa, weil Sie ein Feigling sind. Das kann Ihnen niemand vorwerfen. Sondern weil Sie sich aufs Überleben verstehen. Sie sind ein Überlebenskünstler. Und dafür möchte ich jetzt eine praktische Bestätigung.«
Keine Antwort.
»Dreizehnter«, sagte Reacher. »vierzehnter, fünfzehnter, sechzehnter.«
»Okay«, sagte der Zec. »Sie haben gewonnen. Ich rede mit dem Kriminalbeamten.«
Reacher drückte ihn mit dem Smith & Wesson an die Wand. Zog sein Handy heraus. »Gunny?«
»Hier.«
»Kommt jetzt alle rein. Ich mache euch die Tür auf. Und Franklin? Wecken Sie diese Leute auf, wie wir’s besprochen haben.«
Sein Handy verstummte. Franklin hatte das Netzwerk stillgelegt, um die anderen informieren zu können.
Reacher fesselte den Zec an Handgelenken und Fußknöcheln mit Elektrokabeln von Tischlampen und ließ ihn im Wohnzimmer zurück. Dann ging er ins Erdgeschoss hinunter. Warf einen kurzen Blick in den Überwachungsraum. Wladimir lag in einer Blutlache auf dem Rücken. Seine Augen standen offen. Seine Kehle klaffte. Reacher konnte den Halswirbelknochen sehen. Sokolow lag nach vorn gesackt über dem Tisch. Sein Blut war überall. Ein wenig musste auch in die Verkabelung gesickert sein, denn der Südmonitor war ausgefallen. Die anderen drei zeigten weiter grüne Nachtbilder. Auf dem Westmonitor waren vier Gestalten auf der Einfahrt zu erkennen. Gelb leuchtende Silhouetten, rote Kerne. Eng beieinander, in rascher Bewegung. Reacher löschte das Licht und schloss die Tür. Ging den Flur entlang und sperrte die Haustür auf.
Yanni kam zuerst herein. Dann Cash. Dann Rosemary. Dann Helen. Sie war barfuß und trug ihre Schuhe in der Hand. Ihre Kleidung war völlig verdreckt. Sie blieb an der Tür stehen und umarmte Reacher. Hielt ihn einen langen Augenblick an sich gedrückt und ging dann weiter.
»Was ist das für ein Geruch?« fragte Yanni.
»Blut«, sagte Cash. »Und andere Körperflüssigkeiten.«
»Sind sie alle tot?«
»Alle bis auf einen«, erwiderte Reacher.
Er führte sie nach oben. Hielt Rosemary vor der Wohnzimmertür am Arm zurück.
»Der Zec ist dort drinnen«, sagte er. »Ihnen macht’s hoffentlich nichts aus, ihn zu sehen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich will ihn sehen«, sagte sie. »Ich möchte ihm eine Frage stellen.«
Sie betrat das Wohnzimmer. Der Zec lag auf dem Fußboden, wo Reacher ihn zurückgelassen hatte. Rosemary stand vor ihm: ruhig, würdig, nicht triumphierend. Nur wissbegierig.
»Warum?«, fragte sie. »Ich meine, bis zu einem gewissen Grad verstehe ich, was Sie geglaubt haben, tun zu müssen. Aus Ihrer eigenen verqueren Perspektive. Aber wieso haben Sie nicht einfach Tschenko schießen lassen? Warum mussten Sie meinen Bruder ins Verderben stürzen?«
Der Zec gab keine Antwort. Er starrte nur ins Leere; er schien etwas zu sehen, aber vermutlich nicht Rosemary Barr.
»Psychologie«, sagte Reacher.
»Seine?«
»Unsere. Die der Öffentlichkeit.«
»Wieso?«
»Es musste eine Story geben«, erklärte Reacher. »Nein, es hat eine Story gegeben, und er wollte bestimmen, wovon sie handelte. Gab er einen Schützen preis, würde die Story von dem Todesschützen handeln. Hätte es keinen Schützen gegeben, hätte sie von den Opfern gehandelt. Aber dann wären zu viele unangenehme Fragen gestellt worden.«
»Also hat er James geopfert.«
»Das tat er. Die Liste ist lang.«
»Warum?«
»Ein Tod ist eine Tragödie, eine Million ist eine Statistik.«
»Josef Stalin«, bemerkte Yanni.
Reacher beförderte den Zec mit einem Tritt zur Seite und zog das Sofa ein Stück weit vom Fenster weg. Packte den Zec am Kragen, riss ihn hoch und
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