Jack Reacher 09: Sniper
gewarnt!«, rief er ihm leise in die Dunkelheit nach. »Du hättest mich erledigen sollen, als du Gelegenheit dazu hattest.« Dann zog er sein Handy heraus.
»Gunny?«, flüsterte er.
»Hier.«
»Nordfenster im zweiten Stock, auf das Sie geschossen haben. Sehen Sie’s?«
»Klar.«
»Hier ist gerade ein Kerl rausgefallen. Steht er wieder auf, erschießen Sie ihn.«
Dann steckte er das Handy ein und machte sich auf die Suche nach der Tür zum Dachboden.
Er fand Rosemary Barr völlig unverletzt auf dem Dachboden sitzend. Ihre Fußknöchel und Handgelenke waren mit Klebeband gefesselt und ihr Mund war damit zugeklebt. Reacher legte einen Finger auf ihre Lippen. Sie nickte. Er schnitt sie mit seinem blutbefleckten Messer los und half ihr aufzustehen. Sie war einen Moment lang unsicher auf den Beinen. Dann schüttelte sie sich und nickte kaum merklich. Danach ein Lächeln. Reacher vermutete, die Todesangst, die sie ausgestanden haben musste, und ihre jetzige Reaktion seien durch ihre eiserne Entschlossenheit, ihrem Bruder zu helfen, neutralisiert worden. Dieser feste Wille hatte ihr geholfen durchzuhalten.
»Sind sie weg?«, flüsterte sie.
»Alle bis auf Raskin und den Zec«, antwortete Reacher ebenso leise.
»Nein, Raskin hat Selbstmord begangen. Ich habe sie darüber reden hören. Der Zec hat ihn dazu gezwungen. Weil er sich das Handy von Ihnen hat stehlen lassen.«
»Wo finde ich den Zec?«
»Er hält sich die meiste Zeit im Wohnzimmer auf. Erster Stock.«
»Welche Tür?«
»Letzte links.«
»Okay, Sie bleiben hier«, flüsterte Reacher. »Ich schnappe ihn mir und komme gleich zurück.«
»Ich kann unmöglich hierbleiben. Sie müssen mich aus dem Haus bringen.«
Er überlegte. »Okay, aber Sie müssen ganz leise sein. Und Sie dürfen nicht nach links oder rechts sehen.«
»Warum nicht?«
»Tote.«
»Das freut mich«, sagte sie.
Reacher führte sie am Arm die Treppe zum Korridor im zweiten Stock hinunter. Dann ging er allein in den ersten Stock weiter. Dort war alles ruhig. Die letzte Tür links war weiter geschlossen. Er machte Rosemary ein Zeichen, ihm zu folgen. Sie schlichen ins Erdgeschoss hinunter. Zu dem Zimmer, durch das er hereingekommen war. Er half ihr, übers Fensterbrett ins Freie zu klettern, und deutete die Einfahrt entlang.
»Der folgen Sie bis zur Straße«, erklärte er. »Dann biegen Sie rechts ab. Ich sage den anderen, dass Sie kommen. Keine Angst, wenn Sie einen Typen in Schwarz mit einem Gewehr sehen. Er gehört zu uns.«
Sie verharrte einen Augenblick bewegungslos. Dann bückte sie sich, zog ihre Schuhe mit den niedrigen Absätzen aus, hielt sie mit einer Hand und rannte nach Westen die Einfahrt in Richtung Straße entlang, als wäre der Leibhaftige hinter ihr her. Reacher zog sein Handy aus der Tasche.
»Gunny?«, flüsterte er.
»Hier.«
»Rosemary Barr ist zu Ihnen unterwegs.«
»Gut gemacht!«
»Sie trommeln die anderen zusammen und treffen sich auf halber Strecke mit ihr. Das Nachtsichtgerät brauchen Sie nicht mehr. Dann warten Sie weitere Anweisungen ab. Ich melde mich wieder.«
»Verstanden.«
Reacher steckte das Handy ein. Ging durch das stille Haus zurück – auf die Suche nach dem Zec.
17
Letztlich musste man nur warten können. Wartete man, kamen gute Dinge von selbst zu einem. Und schlechte Dinge. Reacher schlich wieder in den ersten Stock hinauf. Die letzte Tür links war noch immer geschlossen. Er verschwand in der Küche. Linsky lag rücklings in einer Blutlache auf dem Boden. Reacher zündete die Flamme unter dem Teekessel wieder an. Dann trat er auf den Flur hinaus. Ging lautlos zur Vorderseite des Hauses und lehnte sich nach der letzten Tür links an die Wand.
Und wartete.
Das Wasser kochte nach wenigen Minuten. Das Pfeifen des Teekessels begann schwach und leise, nahm aber rasch an Tonhöhe und Lautstärke zu. Binnen zehn Sekunden war der erste Stock von einem irrsinnigen Kreischen erfüllt. Weitere zehn Sekunden später wurde die Tür rechts neben Reacher geöffnet. Ein kleiner Mann trat heraus. Reacher ließ ihn noch einen Schritt machen, dann riss er ihn zu sich herum und rammte ihm die Smith & Wesson unters Kinn.
Und starrte ihn an.
Der Zec. Er war ein breiter, krummer, entstellter, uralter Mann. Ein Gespenst. Kaum mehr menschlich. Bläuliche Narben und braune Altersflecken bedeckten seine Haut. Sein runzliges, schlaffes Gesicht war von Zorn, Hass und Grausamkeit gezeichnet. Er war unbewaffnet. Seine verkrüppelten Hände
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