Jäger der Nacht (German Edition)
Gelände hinein, Vaughn kletterte hinauf und sein Raubtierherz schlug voller Vorfreude. Aber selbst der Jaguar wusste, dass er so etwas nicht tun sollte, ohne Anlass dort hineingehen und sich in Gefahr bringen. Zwar konnte Gefahr weder den Mann noch das Tier schrecken, aber ein tieferes Gefühl siegte schließlich über die Neugier der Raubkatze: Loyalität. Vaughn war ein Wächter der DarkRiver-Leoparden und die daraus resultierende Verpflichtung stand über jedem anderen Gefühl, sogar über jedem anderen Bedürfnis.
An diesem Abend sollte er Sascha Duncan bewachen, die Frau des Rudelführers, während Lucas bei einem Treffen in der Höhle der SnowDancer-Wölfe war. Nur weil Sascha wusste, dass Lucas ohne sie schneller war, hatte sie schließlich zögernd zugestimmt daheimzubleiben. Und nur weil Lucas wusste, dass die Wächter für ihre Sicherheit sorgen würden, war er schließlich doch gegangen.
Vaughn warf einen letzten sehnsüchtigen Blick auf das bewachte Gelände, dann zog er sich auf dem Ast zurück, sprang auf die Erde und machte sich auf den Weg. Er würde sein Vorhaben weder vergessen noch aufgeben. Das Geheimnis um diesen Medialen, der so nah am Territorium der Gestaltwandler lebte, würde gelüftet werden. Niemand entkam dem Jaguar, wenn er erst einmal eine Fährte aufgenommen hatte.
Faith sah aus dem Küchenfenster in die Dunkelheit und wurde das Gefühl nicht los, dass jemand sie beobachtete. Etwas sehr Gefährliches schlich um die Zäune herum, die sie von der Außenwelt abschirmten. Schaudernd schlang sie die Arme um ihren Körpe r – und erstarrte. Sie war eine Mediale – wie konnte sie so reagieren? Lag es an den dunklen Vorahnungen? Rüttelten die an ihren geistigen Schilden? Sie zwang sich mit reiner Willenskraft, die Arme herunterzunehmen, und wollte sich vom Fenster abwenden. Aber es gelang ihr nicht.
Stattdessen beugte sie sich vor und drückte eine Hand an die Scheibe, als wollte sie nach draußen greifen.
Draußen. Sie kannte die Welt da draußen kaum. Immer hatte sie drinnen gelebt, musste drinnen leben. Draußen drohte ihr der geistige Zerfall, und die Angst davor schlug in ihrem Kopf wie eine Trommel, die sie nicht abstellen konnte. Draußen drangen Gefühle von allen Seiten auf sie ein, sah sie unmenschliche, gemeine und schmerzhafte Dinge. Draußen konnte sie zerbrechen. Es war sicherer, hinter den schützenden Wänden zu leben.
Aber jetzt bekamen diese Wände Risse. Dinge drangen herein und sie konnte ihnen nicht entfliehen. Das wusste sie ebenso sicher, wie sie wusste, dass sie dem nicht entkommen konnte, was dort um ihren Besitz herumschlich. Das Raubtier, das sie verfolgte, würde nicht eher ruhen, bis es sie in seinen Krallen hatte. Sie hätte sich fürchten müssen. Aber sie war eine Mediale – sie spürte keine Furcht. Außer im Schlaf. Dann fühlte sie so viel, dass sie Angst hatte, ihre Schutzschilde im Medialnet könnten Risse bekommen und alles dem Rat enthüllen.
Inzwischen mochte sie nicht mehr einschlafen. Wenn sie nun wieder star b – und wenn es diesmal Wirklichkeit wurde?
In das unendliche Schweigen um sie herum drang das leise Läuten der Kommunikationskonsole. So spät am Abend kam das sehr unerwartet – der M-Mediale hatte ihr schließlich mehrere Stunden Schlaf verordnet.
Endlich konnte sie sich vom Fenster lösen. Als sie zur Konsole hinüberging, schien das Vorgefühl einer bevorstehenden Katastrophe sie einzuhüllen, ein finsteres Wissen, das irgendwo im Schattenland zwischen wirklicher Vorhersage und diffusen Vorahnungen angesiedelt war. Auch das eine neue Empfindung, die drückende Erkenntnis, dass irgendetwas Schreckliches die Flügel erhob und nur darauf wartete, dass sie nicht aufpasste.
Als sie die Antworttaste drückte, zeigte ihr Gesicht nichts von ihrer inneren Verwirrung. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass gerade diese Person auf dem Monitor auftauchen würde.„Vater?“
Anthony Kyriakus war das Oberhaupt der Familie. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte er mit Zanna Liskowski einen Zeugungsvertrag geschlossen; beide hatten das Sorgerecht für Faith gehabt, bevor sie mit zwanzig offiziell volljährig geworden war. Sie hatten sie gemeinsam aufgezogen, obwohl diese Formulierung auf ihre Kindheit kaum zutraf. Drei Jahre nach ihrer Geburt war sie mit dem Einverständnis ihrer Eltern aus deren Obhut genommen und in eine vollständig kontrollierte Umgebung gebracht worden, wo ihre Fähigkeiten weiterentwickelt und genutzt werden
Weitere Kostenlose Bücher