Jäger der Nacht (German Edition)
die Stimme. „Vielleicht würden sie, wenn sie von Zeit zu Zeit hinausgingen, sich an die von ihnen verlassene Welt erinnern und ihre wirklichen Fähigkeiten erkennen.“
Er wusste, dass sie an die schrecklichen Martern dachte, die ihr Mann als Kind hatte ertragen müssen, und an seine Rache, die das Band zwischen Vaughn und Lucas geschmiedet hatte. Wenn sich die V-Medialen nicht in ihr Schweigen zurückgezogen und weiterhin Katastrophen und Morde vorhergesehen hätten, wäre Lucas dieser Schrecken vielleicht erspart geblieben.
Und vielleicht hätte auch Vaughn als Jaguar aufwachsen können, hätten ihn seine Eltern nicht dem schlimmsten aller Tode überlassen. Vielleicht.
Mit bloßen Händen erdrosselt.
Faith starrte in dem dunklen Schlafzimmer an die Decke und die Worte drehten sich unaufhörlich in ihrem Kopf. Die Versuchung war groß, alles nur als einen Zufall abzutun und tief in ihr Unbewusstes sinken zu lassen. Ein Teil von ihr wollte genau das tun. Es wäre so viel leichter zu ertragen. Aber es wäre eine Lüge.
Marine war tot. Und Faith hatte diesen Mord vorhergesehen.
Wenn sie diese Vision bloß richtig gedeutet hätte, könnte ihre Schwester vielleicht noch leben. Ja, wenn! Schon in der Kindheit hatte man ihr beigebracht, der Vergangenheit nicht nachzuweinen, überhaupt nicht zu weinen, deshalb vergoss sie auch jetzt keine Tränen. Sie hatte nicht einmal das Bedürfnis, aber tief in ihr schrie ein gefangener und fast unheilbar zerbrochener Teil vor Schmerzen.
Faith hörte die Schreie ihrer verstörten Seele nicht. Sie wusste nur, dass sie sich nicht einfach abwenden konnte. Hier ging es nicht um einen Konjunkturtrend, den sie falsch bewertet hatte, es stand ein Leben auf dem Spiel. Sie konnte nicht einfach wegschaue n – nicht solange sie diese schwere, grausame und hässliche Dunkelheit auf ihren Lidern spürte.
Der Mörder hatte noch nicht genug.
Ein leises Läuten durchbrach die lastende Stille. Zum Glück gab es im Schlafzimmer keinen Bildschirm, Faith antwortete, ohne das Licht einzuschalten. „Ja, bitte.“
Xi Yun selbst meldete sich: „Wir haben seit gestern keine Daten mehr erhalten.“
„Ich bin müde.“ Und sie hatte nicht in dem roten Sessel sitzen und damit vielleicht ihren inneren Aufruhr verraten wollen. „Ich muss etwas Schlaf nachholen, genau wie Sie mir empfohlen haben.“
„Verstanden.“
„Ich werde erst wieder in ein paar Tagen Daten einspeisen.“
„Wie viele Tage genau?“ Die Frage war eine Vorsichtsmaßnahme, sollte ihre Art davor schützen, Dinge zu vergessen, aber Faith ärgerte sich seit kurzem darüber, hielt es für eine weitere Möglichkeit, sie zu binden, damit ihre Fähigkeiten immer zur Verfügung standen.
„Drei.“
Mehr würden sie ihr nicht erlauben, länger „trauten“ sie ihr nicht zu, für sich selbst zu sorgen. Schon oft war ihr der Gedanke gekommen, es sei nur gut, dass sowohl der Clan als auch der Rat so darauf bedacht waren, ihre Fähigkeiten zu erhalten. Sonst hätten sie vielleicht schon längst ihre Schutzschilde im Medialnet beiseitegeschoben, um auch die intimsten Bereiche zu überwachen, selbst ihre Gedanken zu kontrollieren. Selbstverständlich nur zu ihrem eigenen Besten.
Sie schauderte, doch das war sicher der Raumtemperatur zuzuschreiben. Keinesfalls hatte es etwas mit Angst zu tun. Sie hatte keine Angst. Sie empfand gar nichts. Sie war eine Mediale. Noch dazu eine V-Mediale. Ihre Konditionierung war noch strenger als die der anderen Kardinalmedialen abgelaufen – man hatte ihr beigebracht, niemals auch nur die leiseste Andeutung eines Gefühls in ihr Bewusstsein dringen zu lassen, denn das würde ihren Geist zerstören. Sie zweifelte nicht daran. Ihr Clan hatte schon vor Silentium V-Mediale hervorgebracht und jeder oder jede vierte war in einer Heilanstalt gelandet, bevor er oder sie das dreißigste Lebensjahr erreicht hatten.
Drei Tage.
Was war der Grund für diese Auszeit? Sie war nicht müde, auch wenn Xi Yun anderer Meinung war. Sie brauchte weniger Schlaf als die meisten Medialen, vier Stunden waren das Maximum. Die Auszeit sollte nicht zum Ausruhen dienen. Sie hatte eine Idee, ein Ziel, auch wenn es ihr noch nicht bewusst war. Dennoch stand sie auf und packte Kleidung und Toilettenartikel für eine kurze Reise in einen Rucksack.
Vor einem Monat hatte sie jemanden aus ihrem Clan ohne besonderen Grund darum gebeten, ihr einen Rucksack zu besorgen. Niemand hatte nachgefragt, sie hatten angenommen, Faith bräuchte
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