Jäger: Thriller (Ein Marina-Esposito-Thriller) (German Edition)
unten. Plötzlich befangen, nahm er die Finger vom Abzug.
»Ich meine, prinzipiell ist es schon in Ordnung so, aber die Methode ist ziemlich unsicher. Es gibt zu viel, was schiefgehen könnte. Dein Daumen könnte abrutschen. Du könntest danebenschießen. Der Schuss könnte dein Gehirn komplett verfehlen und dir einfach nur den Kiefer wegreißen. Dann wärst du noch am Leben, aber grausam entstellt. Willst du das etwa?«
Der Fremde sah ihn aufmerksam an. Musterte ihn.
Er schämte sich und wandte, noch immer schweigend, den Blick ab. Dann betrachtete er erneut die Flinte. Er könnte sie hochreißen, zielen, abdrücken … und der Fremde wäre tot. Einfach so. Ein Kinderspiel. Ein kurzes Zucken seines Fingers. Ein lauter Knall. Ein toter Eindringling.
Und ein Held.
Der Fremde sah ihn lächelnd an. Er schaute sofort weg, weil er seinem Blick nicht standhalten konnte. Es war, als wüsste der Fremde genau, was er gerade gedacht hatte.
»Wenn es dir ernst damit ist, dreh die Flinte um und steck sie dir in den Mund. Ganz tief rein, bis du würgen musst. Bis kurz vor dem Ersticken. Wenn du dann abdrückst, wird’s garantiert was.« Der Mann demonstrierte das Gesagte gestenreich. »Oder willst du es am Ende gar nicht wirklich?«
Ihm wurde klar, dass der Fremde eine direkte Frage an ihn gerichtet hatte, und er fühlte sich gezwungen, darauf eine Antwort zu geben. Eine möglichst ehrliche.
»Ich … ich weiß nicht genau …«
Der Fremde lächelte, als hätte er mit dieser Antwort gerechnet. »Dachte ich mir. Egal.« Ein Seufzer. » Dorf der Verdammten. Interessanter Film. Nach einem Roman von John Wyndham. Kuckuckskinder . Gelesen?«
Er sagte nichts.
»Nein? Hab dich, ehrlich gesagt, auch nicht für eine Leseratte gehalten. Solltest du dir aber mal vornehmen. Spannend.« Der Fremde lachte. Es klang unangenehm. »Besonders für dich. Ist ja irgendwie dein Thema, stimmt’s?«
Auch dazu schwieg er.
Der Fremde ließ den Blick durch das verwüstete Zimmer schweifen. »Was für eine Sauerei. Was für eine … unglaubliche … Sauerei.« Dann wandte er sich wieder ihm zu. »Und keine Fragen? Du willst nicht mal von mir wissen, wer ich bin oder was ich hier zu suchen habe? Kein bisschen neugierig?«
Er öffnete den Mund, aber es kamen keine Worte heraus. Es war, als hätten sein Kopf und sein Herz ihre Arbeit eingestellt. Er wusste überhaupt nicht mehr, was er denken oder fühlen sollte.
Wieder ließ der Fremde sein unangenehmes Lachen hören. »Ich bin dein Jiminy Grille. Wer sonst? Die Stimme deines Gewissens. Dein eingebildeter kleiner Freund. Wie bei Pinocchio. Den kennst du aber, oder? Die Holzpuppe, die unbedingt ein echter kleiner Junge aus Fleisch und Blut sein will. Die sich verzweifelt danach sehnt, dazuzugehören. Na, kommt dir das bekannt vor?«
Er sah sich im Zimmer um. Sah die Leichen, die in der Dunkelheit nur noch als schwarze Schemen erkennbar und von den Umrissen der zerstörten Möbel nicht mehr zu unterscheiden waren.
»Dachte ich mir.«
Der Fremde hockte sich neben ihn auf den Boden.
»Du kannst das Gewehr jetzt weglegen. Du wirst es sowieso nicht benutzen, weder gegen mich noch gegen dich selbst.«
Er tat wie geheißen und legte die Flinte vorsichtig auf den Holzfußboden.
»Gut.« Der Fremde betrachtete sie, machte jedoch keinerlei Anstalten, sie aufzuheben. Schließlich nickte er. »Gut. Also, was fangen wir denn nun mit dir an, hm?«
»Was … was meinen Sie damit?«
»Na, wir können dich ja nicht einfach hier sitzen lassen, hab ich recht? Oder können wir das?«
»Ich … ich weiß nicht. Ich … hab noch nicht drüber nachgedacht.«
»Natürlich hast du das nicht. Dafür müsstest du ja in der Lage sein zu planen. Vorausschauend zu denken. Aber das ist nicht die Aufgabe von Pinocchio, sondern die von Jiminy Grille, stimmt’s?«
Er schwieg. Vor seinem geistigen Auge erschien das Bild von Pinocchio und Jiminy aus dem Disney-Film, wie sie gemeinsam singend und tanzend eine Straße entlanggingen. Das Bild wirkte nicht echt, es gaukelte eine Lüge vor, aber die beiden sahen glücklich aus. Tatsächlich wirkte das Bild so unecht, dass es erreichbar schien. Er lächelte.
»Na, bitte. Du weißt, wovon ich rede. Kluges Kerlchen. Also, das hier …«, der Fremde machte eine ausladende Geste in den Raum hinein, »ist ein ziemliches Chaos. Ein Chaos, das beseitigt werden muss. Und mit mir an deiner Seite wird das kein Problem sein. Natürlich nur, wenn du willst.«
Er konnte
Weitere Kostenlose Bücher