Jäger: Thriller (Ein Marina-Esposito-Thriller) (German Edition)
Über den Hecken sank die Sonne tiefer. Er machte kein Licht, bemerkte die hereinbrechende Dunkelheit nicht einmal. Die Schatten wurden länger. Er hörte nichts als das Knirschen und Knacken unter seinen Schuhen.
Irgendwann war er wieder im Wohnzimmer angelangt. Im Salon , wie das Mädchen, zu dem er Schwester hatte sagen müssen, ihn immer verbessert hatte. Hier sah es am schlimmsten aus. Noch schlimmer als in seiner Erinnerung.
Hierher hatten sich die meisten seiner Familienmitglieder geflüchtet, bevor die Flinte sie erwischt hatte wie Hasen auf dem Feld oder Tontauben am Himmel.
Seine Mutter hatte es bis zum Kamin geschafft. Das trübe Licht, das durchs große Seitenfenster hereinfiel, verwandelte ihren Körper in einen unförmigen Sack aus Gedärm und Knochen, Kleidern und Haaren. Seine Müdigkeit nahm immer mehr zu und die Taubheit in seinem Innern auch. Er beugte sich über ihre Leiche, um ihr die Haare aus den blicklosen Augen zu streichen. Als er ihr Gesicht berührte, war es, als fasse er einen feuchten Schwamm an. Er zog die Finger weg und sah auf die Leiche hinab. Im Halbdunkel erschien ihr Blut schwarz.
Er wollte weinen, doch er hatte keine Tränen mehr.
Er trat von ihr zurück, nahm sich einen kleinen Hocker, stellte ihn an die Wand und setzte sich darauf. Dann schaute er sich erneut im Zimmer um. Alles war zerstört. Leben. Zukunft. Auch seine eigene.
Er seufzte. Eigentlich sollte ich froh sein , dachte er. Weil jetzt alles mir gehört. Endlich keine Streitereien mehr, kein heimliches Getuschel hinter meinem Rücken. Niemand mehr, der mir Befehle gibt. Mich erniedrigt. Der mir weh tut und mich zwingt, Dinge zu tun, die ich nicht tun will. Der zu mir sagt: Alle anderen dürfen die teuren Sachen anfassen, aber du nicht. Das Mädchen, das meine Schwester hätte sein sollen. Alles vorbei. Alles.
Er betrachtete nachdenklich die Flinte. Spürte, wie ein Gefühl in ihm heranwuchs, das er nicht benennen konnte. Schwer atmend saß er da. Seine Haut war heiß und prickelte, als hätte er urplötzlich Fieber bekommen, und das Zimmer flirrte vor seinen Augen wie beim Einsetzen einer Migräne.
Seine Gefühle durchwirbelten ihn wie ein wilder Strudel, immer schneller und schneller. Gleich würden sie ihn verschlingen und in die Tiefe reißen.
Schluss damit.
Schluss.
Er ließ die Flinte aus der Armbeuge gleiten. Er hatte sie so lange gehalten, dass sich sein Ellbogen nur langsam und unter Schmerzen entkrampfte. Wie ein rostiges Tor, das aufgeschlossen wird.
Er nahm die Flinte in die rechte Hand und streckte die Arme aus. Noch immer drehte sich alles in seinem Kopf. Er presste sich das Ende des Laufs unters Kinn, kaltes Metall auf seiner glühenden Haut. Den Kolben nahm er zwischen die Knie. Er presste die Beine fest zusammen. Schlang beide Daumen um den Abzugshahn. Schloss die Augen.
Schluss damit …
»Dürfte ich vielleicht einen Vorschlag machen?«
Er hielt inne. Schlug die Augen auf.
»Wenn du’s schon machst, dann mach’s wenigstens richtig.«
2 Die fremde Stimme ließ ihn vor Schreck zusammenfahren. Er hatte gedacht, er wäre allein im Haus. Der Einzige. Zumindest der Einzige, der noch lebte.
»So ist es nicht richtig.« Ein Finger deutete auf seine Flinte. »Du hältst sie verkehrt herum.«
Er sah auf seine eigenen Finger herab. Der Abzug zeigte nach außen, von seinem Körper weg. Er hatte gedacht, dass es am leichtesten wäre, den Bügel mit den Daumen durchzuziehen. Er wollte ganz sichergehen, dass er nicht danebenschoss.
»Wie in Dorf der Verdammten .«
Er war so verwirrt, dass er nicht antworten konnte.
» Dorf der Verdammten «, wiederholte der Neuankömmling voller Ungeduld. »Der Film. Mit diesen unheimlichen blonden Kindern. Ist schon älter. Schwarzweiß.«
Noch immer sagte er nichts.
»Den musst du doch gesehen haben. Erinnerst du dich wirklich nicht mehr?«
Er konnte dem Fremden nicht folgen, es war alles zu viel. Das Haus. Die Menschen, die er als seine Familie betrachtet hatte. Und jetzt dieser Mann, dessen Worte nur als eine Art Störgeräusch in seinem Kopf ankamen. Weißes Rauschen. Sein Gehirn kam einfach nicht mit.
»Ist ja auch egal. Jedenfalls gibt es in dem Film diese eine Szene: Der Pastor hat irgendwas gemacht, was die Kinder verärgert hat, also zwingen sie ihn, sich umzubringen. Mit seinem eigenen Jagdgewehr. Und er macht es so.« Der Fremde zeigte auf seine Hände. »Er hält das Gewehr genau wie du jetzt gerade.«
Erneut richtete er den Blick nach
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