Jäger: Thriller (Ein Marina-Esposito-Thriller) (German Edition)
zu viel. Damit ist er zu weit gegangen. Ich kann nicht länger bei ihm bleiben.« Sie beugte sich über den Tisch und ergriff erneut Helens Hände. »Helfen Sie mir. Bitte.«
»Also gut«, sagte Helen ganz geschäftsmäßig. »Wie viel könnten Sie heute in bar von seinem Konto abheben?«
»In bar? Ich weiß nicht … nicht viel. Aber er hat einen Safe im Haus.«
Helen lief ein erwartungsvoller Schauer über den Rücken. »Wie viel ist da drin?«, wollte sie wissen.
»Normalerweise so um die … siebzig- oder hunderttausend …«
Helen konnte ihre Erregung kaum noch im Zaum halten. »Dann gehen Sie und holen es!«
Dees Miene verdüsterte sich. »Das kann ich nicht.«
»Wieso nicht?«
»Er spioniert mir die ganze Zeit nach, lässt mich nie aus den Augen …« Sie verstummte. »Er will später noch mal weg.«
»Wann?«
Dee biss sich nachdenklich auf die Lippe. »Um sieben. Heute Abend.«
»Das ist die Gelegenheit für Sie«, sagte Helen und drückte Dees Hand. »Ich sage Ihnen, was wir machen: Noch heute Nachmittag richten Sie ein geheimes Konto ein. Die Bank ist egal, Hauptsache, die Filiale ist für Sie leicht zu erreichen. Um sieben Uhr räumen Sie den Safe leer, dann packen Sie Ihre Sachen, wir treffen uns irgendwo, zahlen das Geld ein und tauchen unter. Nach ein paar Tagen gehen wir in irgendeine Filiale, lösen das Konto wieder auf und nehmen das Geld mit. Was sagen Sie dazu?«
Dees Augen wurden kugelrund. »Können wir das denn machen?«
»Natürlich. Geben Sie mir einen Anteil, und ich sorge dafür, dass alles glattläuft.«
»Wir zwei zusammen?« Dee lachte.
»Wir zwei zusammen.«
»Und Sie … Sie kommen mit?«
»Aber sicher komme ich mit. Wir fangen irgendwo ganz neu an. Nur wir beide.« Beziehungsweise wir drei , dachte Helen. Das Geld nicht zu vergessen.
Dee lächelte. Nie hatte sie menschlicher ausgesehen. Ich habe sie wirklich völlig falsch eingeschätzt, dachte Helen.
Sie verabredeten, wann und wo sie sich später am Abend treffen wollten, und Helen verließ das Haus in bester Laune. Es hätte nicht besser laufen können, wenn sie es geplant hätte.
60 »Na«, sagte Deepak, als er Helen Hibbert aus dem Haus kommen sah. »Da sieht aber jemand zufrieden aus.«
Helen Hibbert hüpfte fast auf dem Weg zu ihrem Taxi. Sie hatte ein breites Grinsen im Gesicht.
Deepaks Hand lag bereits am Türgriff. »Dann fragen wir mal nach, was meinen Sie?«
»Ja«, sagte Jessie und stieg auf der anderen Seite aus. »Das machen wir.«
Sie gingen zum Tor.
Genau wie der Nebel hatten sich auch Jessies Kopfschmerzen inzwischen fast vollständig verzogen.
61 Marina schlug die Augen auf. Sie lag in einem fremden Bett in einem fremden Zimmer. Sie schob die Decke beiseite und wurde panisch. Dann fiel es ihr wieder ein.
Ihr Bruder Alessandro. Jaywick.
Sie ließ sich zurückfallen. Schloss die Augen.
Jaywick. Sie war gestern Abend hergefahren, gleich nachdem sie bei dem Haus gewesen war. Sie zitterte. Das Haus. Bei der Erinnerung an das, was sie dort vorgefunden hatte, drehte sich ihr der Magen um. Sie fühlte etwas in ihrer Hand und öffnete die Augen wieder. Lady. Sie hielt den Plüschhund so fest umklammert, dass ihre Knöchel weiß und ihre Finger steif geworden waren. Sie blinzelte gegen das Morgenlicht an. Sie war bei Sandro aufgetaucht und dann vor Erschöpfung zusammengebrochen.
Sie konnte sich noch an die Fahrt erinnern. Jaywick sah immer gleich aus. Unmittelbar südlich von Clacton gelegen, war es ursprünglich als Feriensiedlung für Urlauber aus London gedacht gewesen, von denen viele sich dauerhaft in den kleinen Fertighäusern niedergelassen hatten. Die folgenden Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen. Jaywick war wie ein vielversprechender Jungstar, der irgendwann zum Opfer seiner Exzesse wird. Die ursprünglichen Anlagen standen noch, aber mittlerweile war der Ort eine einzige Ruine. Ein englischer Slum, eine City of God, made in Essex. Bei den teilweise bis zur Abbruchreife verkommenen Häusern waren Fenster und Türen eingeschlagen, Obdachlose und Hausbesetzer wohnten jetzt darin. Crackhöhlen florierten. Manche Bewohner hatten sich an kreativen Verschönerungsmaßnahmen versucht: ein Wohnwagen, der anstelle eines regulären Anbaus an die Seite eines Hauses angefügt worden war; eine nachträglich eingebaute Gaube, die zu schwer für die Dachkonstruktion gewesen war und das komplette Obergeschoss eines Hauses zum Einsturz gebracht hatte. Die Straßen waren eng, der von Unkraut und
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