Jagdzeit
1 Die Dunkelheit beißt!
Die Jagd hat begonnen. Hinter mir kann ich ihre Schritte hören, zu nah. Über mir ist der verdammte Mond fast voll. Wie kommt es, dass dennoch kein einziger Strahl zwischen den Baumkronen in den Wald dringt, der sich finster und unheimlich vor mir aufbaut? Verdächtig, dieses bewegungslose, schwarze Nichts! Kein Blättchen rührt sich, absolute Windstille. Nur starre, dunkeldunkelschwarze Baumriesen mit im Nirgendwo verschwindenden Kronen und endlosen, glatten Stämmen, denen das silbergraue Mondlicht die Gestalt von Marmorsäulen gibt, die statt einer Stuck- eine Himmelsdecke tragen. Dazwischen Schatten, Dunst und was weiß ich was.
Ich bin eigentlich nicht ängstlich. Zum Beispiel macht es mir nichts aus, nachts von der Bushaltestelle durch stille Seitengassen nach Hause zu gehen. Doch ich besitze eine blühende Fantasie, was dazu führt, dass meine Angst direkt proportional zu fehlender Sicht zunimmt. Angesichts der Tatsache, dass es stockdunkel ist und ich mich am Rande eines großen Waldgebietes befinde, in dem wilde Tiere, insbesondere Wölfe, nicht lange zögern, wenn es um potenzielles Frischfleisch geht (uaah!), werde ich also womöglich schreien, wenn sich im Unterholz etwas bewegt. Ziemlich sicher sogar.
Mein Rücken ist schweißnass von meinem Spurt durch das Dorf. Ob sie die Richtung sehen (oder riechen?) konnten, in
die ich verschwunden bin? Verfolgen sie mich mit Fackeln und Pistolen, oder ziehen sie es vor, mich mit einem stumpfen Gegenstand k.o. zu schlagen, um mich anschließend ohne viel Trara verschwinden zu lassen? Ein Todesfall mehr in W., was tut das schon zur Sache? Selbst schuld, Olivia, sage ich flüsternd zu mir selbst, selbst schuld, wenn man sich in fremde Angelegenheiten mischt! Ich bin kein bisschen besser als der Schnüffler. Kein bisschen!
Kann es sein, dass meine Hände zittern? Ich hätte mir »Blair Witch Project« nicht ein zweites Mal ansehen dürfen. Vor allem die Szenen, wo die Kamera lief, aber nur Finsternis zeigte, habe ich jetzt im Kopf, diese absolute, undurchdringliche Waldfinsternis. Wo wird man schließlich heutzutage in unserer Standby- und Neonreklamewelt noch mit restloser Finsternis konfrontiert?
Was war das? Ein Knacken, ganz deutlich. Ich wimmere. Der metallische Geschmack in meinem Mund wird stärker, und die Übelkeit in meinem Magen macht mir zu schaffen. Zu viel Zucker, zu viel Fett und zu viel Kribbelangst. Klarer Fall von hormonellem Supergau!
Seit mittlerweile drei Tagen, also ziemlich genau seit meiner Ankunft in diesem entsetzlichen Bergdorf, leide ich nämlich an dem längsten und schwersten PMS-Anfall meines Lebens. Verfluchte Östrogene! In senkrechter Position bewegt sich eine Hitzewelle permanent von oben nach unten und wieder retour, während mein Kopf gefühlsmäßig etwa zehn Zentimeter über meinem Hals schwebt, dafür aber allein fünfzig Kilogramm wiegt. Mein Hintern wiegt dreihundert. Mir ist schlecht, schwindelig, ich bin fett, aber hungrig und habe seit vorgestern bereits dreieinhalb Weinkrämpfe, einen Tobsuchtsanfall, eine
emotionale Entgleisung sowie mehrere kleine depressive Verstimmungen hinter mir. An all dem, insbesondere an erstens, zweitens und drittens, ist nur der Schnüffler schuld. Nun ja, zu einem Teil auch der Mohnkuchen. Doch diese Gedanken will ich derzeit nicht denken! Nicht mit einem Haufen Jäger auf den Fersen, stockdunkler Nacht um mich herum und einem unheimlich knackenden, finsteren Wald als einzigem Fluchtweg. Wer weiß, was mich zwischen den Bäumen und Büschen erwartet? Ganz schön blöd, sich zwischen Todesgefahr und Todesgefahr entscheiden zu müss…
Da, schon wieder! Näher. Um Himmels willen. Mein eigener Atem dröhnt in meinen Gehörgängen, mischt sich mit Herzschlag, Blutrauschen sowie, ja wirklich, klappernden Zähnen. Kalter Schweiß auf meiner Stirn. Ich wünschte, ich hätte einen Schluck Wasser, mein Mund ist so schrecklich trocken und mein Magen flau wie nie. Während ich die Luft anhalte, versuche ich, mich auf die Geräusche aus dem Schattenwald zu konzentrieren. Nichts. Gar nichts. Dafür Stimmen hinter mir, Rufe, Schreie. Kommandos. Bilde ich mir das nur ein, oder kann ich bereits das Leuchten ihrer Fackeln sehen, wenn ich über die Schulter zurückblicke? Licht, denke ich sehnsüchtig, was würde ich für ein wenig Licht vor mir geben. Doch besser das Dunkel des ungemütlichsten Verstecks als die Glut der gierigen Meute. Also los, Olivia! Ich atme tief ein und
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