Vermiss mein nicht
Eins
Jenny-May Butler, die in der gleichen Straße wohnte wie ich, verschwand, als ich noch ein Kind war.
Die Polizei strengte umfassende Ermittlungen an, die in eine endlose Suche nach dem kleinen Mädchen mündeten. Monatelang war die Geschichte jeden Abend in den Fernsehnachrichten, prangte morgens auf der Titelseite der Zeitungen und war überall Gesprächsthema Nummer eins. Das ganze Land beteiligte sich – es war die größte Vermissten-Suchaktion, die ich je erlebt habe, und aus irgendeinem Grund schien jeder sich davon betroffen zu fühlen.
Tag für Tag lächelte Jenny-May Butler, ein hübsches blauäugiges Blondchen, in jedem Wohnzimmer des Landes von der Mattscheibe, rührte die Menschen zu Tränen und brachte Eltern reihenweise dazu, ihre Kinder beim Gutenachtsagen ein bisschen fester und länger an sich zu drücken. Alle träumten von Jenny-May, alle schlossen sie in ihre Gebete mit ein.
Sie war zehn Jahre alt, genau wie ich, ging in die gleiche Klasse, und jeden Tag sah ich ihr hübsches Foto in den Nachrichten. Die Leute sprachen von ihr, als wäre sie ein Engel. Wenn man ihre Gespräche hörte, wäre man nie auf die Idee gekommen, dass Jenny-May in der Pause, wenn die Lehrerin gerade mal nicht hinschaute, mit Steinen nach Fiona Brady warf oder dass sie mich gern als »blödes Kraushaarschaf« betitelte, vor allem, wenn Stephen Spencer in der Nähe war, und das nur, weil sie mit ihm gehen und mich als Konkurrentin ausstechen wollte. Nein, in diesen Monaten der Suche nach ihr war sie schlicht perfekt, und ich hätte es auch nicht fair gefunden, dieses Bild zu zerstören. Nach einer Weile vergaß ich sogar ihre ganzen Gemeinheiten, weil das Mädchen, das gesucht wurde, eigentlich gar nicht mehr die normale Jenny-May war, sondern die liebe süße Jenny-May Butler, die vermisst wurde und deren furchtbar nette Eltern jeden Abend in den Neun-Uhr-Nachrichten um sie weinten.
Sie blieb verschwunden. Man fand weder ihre Leiche noch sonst irgendeine Spur – es war, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Niemand hatte in der Gegend irgendwelche zwielichtigen Subjekte bemerkt, auf keiner Überwachungskamera war zu sehen, was sie zuletzt getan hatte, es gab keine Zeugen, keine Verdächtigen, und das, obwohl die Polizei wirklich jeden Möglichen und Unmöglichen verhörte. Allmählich breitete sich ein gewisses Misstrauen unter den Menschen aus. Wenn man den Nachbarn morgens auf dem Weg zur Arbeit ein freundliches Hallo zurief, machte man sich plötzlich ungewohnte und unerfreuliche Gedanken. Gegen diese Phantasien war kein Kraut gewachsen – bei ganz normalen Samstagmorgenbeschäftigungen wie Autowaschen, Gartenzaunstreichen, Unkrautjäten und Rasenmähen blickte man sich verstohlen um, stellte sich im Stillen unangenehme Fragen und hing Spekulationen nach, die einen zutiefst beschämten. Schockiert und wütend stellten die Menschen fest, dass sie sich gegenseitig verdächtigten und dieser Vorfall sie auf völlig abwegige Ideen brachte. Sie schrubbten emsig, drehten den Gartenschlauch unerbittlich auf und versuchten alle vermeintlichen Schweinereien zusammen mit dem Seifenschaum von der Kühlerhaube zu spülen, bis der Lack glänzte und auch die Gartenzäune in makellosem Weiß erstrahlten. In dieser Gegend, wo ein grüner Daumen zur Grundausstattung gehörte, wusste man, dass die Blumenzwiebeln nicht lange unter der Erde ausharrten, sondern dass die Triebe bald durch die Oberfläche dringen würden. Das war auch nur richtig so, es entsprach schließlich ihrer Natur.
Doch die hinter verschlossenen Türen angedeuteten Vorwürfe waren für die Polizei nutzlos, ihr einziger Hinweis war ein hübsches Bild. So blieb Jenny-May Butlers Verschwinden ein unlösbares Rätsel.
Ich fragte mich, wo sie jetzt wohl sein mochte. Wie um alles in der Welt konnte sich ein Mensch einfach in Luft auflösen, ohne die geringste Spur zu hinterlassen, ohne dass
irgendwer irgendwas
darüber wusste? Nachts starrte ich aus meinem Schlafzimmerfenster zu ihrem Haus hinüber, wo immer Licht brannte. Anscheinend schlief auch Mrs. Butler nicht besonders gut, denn ich sah sie oft auf der Sofakante sitzen, als kauerte sie in den Startlöchern und wartete darauf, endlich einen Startschuss zu hören. Sie wartete auf Neuigkeiten. Manchmal winkte ich ihr zu, und sie winkte traurig zurück. Durch den Tränenschleier konnte sie mich wahrscheinlich kaum erkennen.
Genau wie Mrs. Butler war auch ich unglücklich darüber, dass wir keine
Weitere Kostenlose Bücher