Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
ja. Dann kichert sie, und fragt zurück: Sie auch?
Die New York Times bringt in unsere Erfahrung, daß der Flüchtling aus Neigung hat lernen müssen, wie man Schecks ausstellt.
Die Tochter des größten sozialistischen Staatsmannes sagt: Obwohl ich immer eine persönliche Bindung an meinen Vater fühlte, war ich niemals ein Bewunderer dessen, was als System »Stalinismus« genannt wurde.
Sie hat da um ein Glas Wasser gebeten, »mit Eis, bitte«.
Über ihre Kinder sprach sie also mit gesenkter Stimme, aufs Gehölz am Rande des Gartens hinausblickend.
Sie sagt: Der wichtigste schlimme Einfluß in meines Vaters Leben war, was ihn die Priesterschaft aufgeben und zum Marxisten werden ließ.
Sie sagt: Ich glaube, ein religiöses Gefühl ist angeboren, so wie man zum Dichter geboren ist.
Die New York Times: sagt die New York Times: wird am 10. September beginnen, Auszüge aus dem Buch der Tochter Stalins zu drucken. Sie sagt es weder am Anfang noch am Ende, sie sagt es beiläufig und am Rande. Die New York Times hat Vertrauen auf ihre Leser.
28. August, 1967 Montag
In einem Bericht über abgestimmte Feuerüberfälle des Viet Cong im ganzen Süden des Landes nennt die New York Times für diese Seite an Verlusten (Toten oder Verwundeten) aus Cantho 268 (später 248), aus Hoian 79, aus Hue 1, aus Quangda und Dienban 53 oder mehr, nahe Pleiku mäßige, aus Banmethuot 13, nahe Saigon leichte, und gibt als Endsumme 355.
Jerichow zu Anfang der dreißiger Jahre war eine der kleinsten Städte in Mecklenburg-Schwerin, ein Marktort mit zweitausendeinhunderteinundfünfzig Einwohnern, einwärts der Ostsee zwischen Lübeck und Wismar gelegen, ein Nest aus niedrigen Ziegelbauten entlang einer Straße aus Kopfsteinen, ausgespannt zwischen einem zweistöckigen Rathaus mit falschen Klassikrillen und einer Kirche aus der romanischen Zeit, deren Turm mit einer Bischofsmütze verglichen wird; lang und spitz läuft er zu, und wie die Mütze eines Bischofs hat er Schildgiebel an allen vier Stirnen. Um den Marktplatz im Norden, zur See hin, standen ein Hotel, die Bürgermeisterei, eine Bank, die Raiffeisenkasse, Wollenbergs Eisenwarenlager, Papenbrocks Haus und Handlung, die alte Stadt, hier gingen Nebenstraßen ab, Kattrepel, Kurze Straße, die Bäk, Schulstraße, Bahnhofstraße. Am südlichen Ende, um Kirche und Friedhof herum, war die erste Stadt gewesen, fünf Gänge zwischen Fachwerkhäusern, bis sie abbrannte, 1732, erst im neunzehnten Jahrhundert wieder zugestellt mit gedrungenen Backsteinhäusern, Schulter an Schulter unter sparsamen Dächern, da steht heute das Postamt, das Konsumkaufhaus, die Ziegelei hinter dem Friedhof, die Ziegeleivilla. Um die Stadt herum waren viele Scheunen übrig, die Nebenstraßen waren bald Feldwege, und neben Schaufenstern in der Hauptstraße standen hölzerne Hoftore. Da, auf hundertzwanzig Hektar, wohnten Ackerbürger, Kaufleute, Handwerker. Cresspahl kam von Süden, auf der Gneezer Chaussee, und fuhr über die Hauptstraße am Marktplatz vorbei heraus aus Jerichow, denn er fing nun an, die Stadt zu erwarten. Da war die Stadt zu Ende, bis zur See lagen Felder.
Jerichow war keine Stadt. Es hatte ein Stadtrecht von 1240, es hatte einen Gemeinderat, es bezog Elektrizität vom Kraftwerk Herrenwyk, es hatte ein Telefonnetz mit Selbstanschluß, einen Bahnhof, aber Jerichow gehörte der Ritterschaft, deren Güter es umgaben. Das war nicht mit dem Brand gekommen. Die Ritterschaft hatte den Bauern, die das Land urbar gemacht hatten, ihre Höfe genommen, ihre Felder den eigenen zugeschlagen, sie leibeigen gemacht, und das schwächliche, über die Ohren verschuldete Fürstenhaus hatte ihnen das Recht dazu im grundgesetzlichen Erbvergleich von 1755 bestätigt. Von den Dörfern, die Jerichow stark gemacht hatten, gab es noch drei, winzige, ärmliche Siedlungen. In diesem Winkel regierte der Adel, Arbeitgeber, Bürgermeister, Gerichtsherr über seine Tagelöhner, als Raubritter berühmt geworden, als Unternehmer wohlhabend. Jerichow war wiederum nicht weit von dem Rodedorf, als das es angefangen hatte. Von der Schiffahrt war es ausgeschlossen durch die großen Häfen, seine Entfernung vom Meer. Wo ein Hafen für Jerichow hätte sein können, saß das Fischerdorf Rande, schon am Anfang des Jahrhunderts reich genug für Grand Hotels, Erbgroßherzog, Stadt Hamburg. Jerichow war eine Station geblieben auf dem Weg nach Rande, früher die Diligencen wie jetzt die Omnibusse gaben die zahlkräftigen Badegäste nicht
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