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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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neben denen derer zu wissen, die im Krieg gegen die Nazis gefallen sind. In Westfalen hat ein Prozeß begonnen gegen vier Deutsche, die im Konzentrationslager Mauthausen Häftlinge in eiskaltem Wasser ertränkt haben sollen. Mindestens eine Million amerikanischer Hausfrauen sind alkoholsüchtig. Und diesmal ist die Tochter Stalins in der Zeitung, weil sie für ein Fernsehinterview nicht 250 000 Dollar haben will. Sie macht es für umsonst. Sie scheint erheblichere Einkünfte vorauszusehen.
     
    – Und wie war es im Büro, Gesine?
     
    Mrs. Williams ist wieder da, und sie war nun nicht in Griechenland, aus Angst vor dem Militär. Die Angestellten wurden in einem dritten Rundschreiben aufgefordert, in der Mittagspause die Tische abzuschließen und Taschen bei jedem Gang mitzunehmen, wegen neuer Diebstähle auf dem neunten Stockwerk. Das neueste Gerücht ist, wir hätten Xerox gekauft. Mein Chef mußte am Nachmittag nach Hawaii, sein Sohn kommt dahin von Süd-Viet Nam zur Erholung.
     
    – Und was stand in der Zeitung?
     
    Mahalia Jackson liegt in Westberlin in einem Krankenhaus.

30. August, 1967 Mittwoch
    Der Viet Cong brach in ein Gefängnis in Quangngai und befreite 800 Gefangene. Die Zeitung nennt die Namen von vier amtlichen Kriegstoten aus der näheren Umgebung, nicht aber die Zahl aller. Dem toten Nazi wurde der Weg zum Grab im Nationalfriedhof von Culpeper, Virginia, von einer Einheit Soldaten versperrt, weil die Partei nicht das Hakenkreuz vom Leichenwagen nehmen wollte; jetzt liegt er wieder beim Bestatter.
    »Liebe Gesine.
    Ich habe bis acht auf dich gewartet, dann hat Pamela Blumenroth mich zum Übernachten eingeladen. Bitte ruf nicht an.
    Keine Post, außer für mich.
    Was du brauchst ist im Eisschrank.
    Mrs. Ferwalter ist sauer auf dich oder mich. Sie hat seit einer Woche nicht angerufen.
    Wir müssen was mit D. E. machen. Er glaubt nicht, daß du allein in New Jersey warst.
    Der Telefonverwechsler hat wieder zugeschlagen. Diesmal nannte er sich George und wollte mit einer Luise sprechen. Der Anruf kam aus Rhode Island.
    Warst du allein in New Jersey?
    Wenn du etwas Neues über den Zustand von Mahalia Jackson liest, bring es mir mit.
    Diesen Griem in Jerichow, hast du den gekannt? Lebt der noch?
    Ich habe in Wahrheit nur bis halb acht gewartet. Was ist das eigentlich für ein Büro, wo Leute behalten werden bis acht in der Nacht? Lohnt sich das für uns?
    Mit affektioniertem Gruß,
    Mary Fenimore Cressp. Cooper.«
    Für »Eisschrank« benutzt sie ein britisches Slangwort, aus Treue zu London-Südost.
    Was machen die Chinesen? In London fangen sie Streit an mit der Polizei und gehen mit Baseballschlägern, Eisenstäben und Äxten auf sie los. Der die Axt hält, ist ein schmächtiger Junge mit einer Brille, ein Schulkind.
    Wie haben die Chinesen in England einen Baseballschläger gefunden?

31. August, 1967 Donnerstag
    Die Viet Cong setzen ihre Überfälle im Süden des Landes fort. Die Sowjets machen drei Schriftstellern einen geheimen Prozeß. Die Chinesen ziehen dem britischen Geschäftsträger in Peking den Kopf an den Haaren herunter; sie sagen: aus Rache. Weitere sechs Friedhöfe haben die Leiche des Naziführers zurückgewiesen, nun hat die Partei ihn verbrannt und steht Wache neben der Asche.
    Was für eine Person stellt Gesine sich vor, wenn sie an die New York Times denkt wie an eine Tante?
    Eine ältere Person. Auf der Oberschule in Gneez wurden so Lehrerinnen bezeichnet, vorgeschrittenen Alters, humanistisch gebildet, die in gutem Willen den Lauf der Dinge mißbilligten, in Gesprächen unter vier Augen, wehrlos. Sie hatten einmal den Lauf der Dinge ändern wollen durch ein Studium an den wilhelminischen Universitäten, durch Zelten und Wasserwandern mit Männern ohne Trauschein, durch eigene Arbeit zum Kummer ihrer bürgerlichen Familien, deren Glaubenssätze sie im eigenen Alter, grauhaarig, auf derben Sohlen und womöglich in Hosen wandernd, gegen den Wandel der Zeiten verteidigten: Es schickt sich nicht, eine Revolution in den Sattel zu heben, vielleicht hat sie nicht genug Reitstunden gehabt. Man muß doch auch ans Pferd denken. Es ist wahr, eine solche Äußerung im Unterricht hätte ihnen Entlassung aus dem Schuldienst eingetragen. Sie wurden Tanten mit Nachsicht genannt, nicht unfreundlich, nicht ohne Mitleid. (Der Name Tante für Kindergärtnerinnen, Heldinnen der Bevormundung, war gehässig. Sportscheue Jungen, überängstliche Mädchen wurden Tanten genannt, mit Verachtung.)

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