Voll daneben
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KLOPF, KLOPF, KLOPF ...
»Ist das Ding überhaupt an? Ha, ha! Das war bloß ein Scherz, Leute.«
Der Nachrichtentyp mit dem Mikro grinst und zwinkert mir zu.
Mom, Dad und ich sitzen ihm auf hohen Barhockern gegenüber. Meine Beine baumeln in der Luft. Der Kameramann gibt das Zeichen – er zählt mit den Fingern stumm von fünf bis ... live.
»Guuuten Mooorgen, Amerika! Hier am Times Square strahlt heute Vormittag die Sonne. Ich bin Josh Harmon, und meine heutigen Gäste sind die Gellers. Also, wenn Sie noch nie von Allan und Sarah Geller gehört haben, dann leben Sie wohl hinterm Mond. Sarah war viele Jahre lang Topmodel, dessen umwerfende Schönheit die Laufstege von Paris bis Mailand verzaubert hat. Sie schaffte es auf die Titelseite der Vogue, war als Pressesprecherin für Shinefree-Make-up-Produkte tätig und in so vielen Werbekampagnen zu bewundern, dass man sie gar nicht alle aufzählen kann. Als neueste Herausforderung ist sie Inhaberin der Boutique Style in Westchester, New York. Willkommen in der Sendung, Sarah.«
Mom nickt lächelnd. Ihre Augen glänzen, und für mich ist sie die schönste Mutter der Welt.
»Allan Geller«, sagt der Moderator, während er sich Dad zuwendet, »arbeitete sich von ganz unten zum Geschäftsführer von Money Vision hoch, einem der erfolgreichsten Unternehmen der USA , wie Sie alle wissen. Es ist sicher nicht übertrieben zu sagen, dass dieser M ann ein Finanzgenie ist. Wenn Sie noch mehr über ihn wissen wollen, brauchen Sie nur die neueste Ausgabe von ›Business Today‹ aufzuschlagen, denn die haben ihn zu ihrem Mann des Jahres gekürt. Ich gratuliere, Allan.«
Dad strahlt und nickt bescheiden. Ich sehe ihn an und finde ihn total cool.
»Und das hier ...« Jetzt wendet sich der Moderator an mich. »Das ist ihr Sohn Liam, der jetzt ... wie alt bist du, Liam?«
»Neun.«
Er lächelt, als wären wir gute Freunde.
»Du bist deiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten«, sagt er. »Ich wette, das hörst du dauernd, stimmt’s?«
Ich nicke und vergesse auch nicht zu lächeln. Der Interviewer grinst zurück, aber dann fragt er plötzlich hinterlistig, als würde er einen Witz machen: »Aber bist du auch gut in Mathe?«
Mom und Dad lachen, aber ich weiß nicht, was daran so komisch sein soll. Ich schüttele den Kopf. Der Moderator tut überrascht.
»Soll das etwa heißen, du hast das geniale Rechentalent deines Vaters nicht geerbt?«
Ich bin nicht sicher, was er damit meint, aber dann sehe ich Dad an. Sein Lächeln ist so künstlich, dass sogar seine Mundwinkel leicht zucken. Unbehaglich rutsche ich auf meinem Hocker ein Stück weiter nach hinten, aber der Interviewer lässt nicht locker.
»Gehst du gern zur Schule?«, bohrt er. »Vielleicht gibt es ja ein Fach, in dem du besonders gut bist?«
Ich habe gerade mein Zeugnis bekommen, und die Erinnerung daran ist noch frisch. Mir fallen die Worte wieder ein, die der Medienspezialist vorhin gesagt hat: »Die Reporter werden dir keine schweren Fragen stellen, Liam. Sei einfach du selbst und gib ihnen ehrliche Antworten, die kurz und präzise sind. Und vergiss nicht zu lächeln.«
A lso lächle ich und antworte: »Meine Noten sind alle total schlecht, und Dad schreit mich oft an.«
Mom hustet laut und trinkt hastig einen Schluck Wasser aus dem Glas, das neben ihrem Stuhl steht. Dad wirft mir einen Blick zu, der so kurz ist, dass ich nicht sicher bin, ob ich ihn wirklich wahrgenommen habe. Die Erwachsenen lachen laut, aber mir ist klar, dass ich das Falsche gesagt habe.
Der Moderator kann sein Grinsen nicht unterdrücken.
»Ich bin sicher, viele Eltern können das nachvollziehen«, sagt er, als würde er versuchen, nett zu sein, aber ich merke, dass er plötzlich irgendwie anders ist. Es ist, als wäre er vorher unser Freund gewesen, der sich freute, uns zu sehen und uns für dieses Interview dankbar war. Und jetzt ist er zu einem Hai geworden, der Blut wittert.
»Es muss schwierig sein, bei so zeitintensiven Karrieren wie Ihren auch noch Eltern zu sein«, sagt er zu Mom und Dad, aber er lässt ihnen keine Zeit, darauf zu antworten. »Vermisst du deine Eltern, wenn sie weg sind?«, fragt er mich.
Auf diese Frage hat der Medienspezialist mich nicht vorbereitet.
»Nein«, sage ich. Dann fällt mir ein, dass das vielleicht nicht gut ankommt, deswegen korrigiere ich meine Antwort. »Ich meine, ja.« Dann füge ich hinzu: »Mom sehe ich oft, aber Dad nicht, weil er immer arbeitet.«
»Ahaaa«, sagt der
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