Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
20. Dezember, 1967 Mittwoch
Das Wasser ist tief unter der Straße versteckt, wo sie über einen Felsbuckel muß, chlorgrünes, laues, pralles Wasser in einem Fliesenkasten unter dem Hotel Marseille an der West End Avenue, Manhattan, Obere Westseite, New York, New York. Das Wasser ist laut, platzt und reißt unter den Sprüngen der Schwimmer, schwappt gegen die Wände, klackt in den Überläufen, wirft das Prasseln des eingeengten Echos wild hin und her. Auf die Zehenspitzen. Die Arme vor. Die Knöchel hoch. Den Kopf zwischen die Arme. Die Fußsohlen flach beieinander halten. Jetzt schlägt das Wasser gegen die Schädeldecke. Die rasche Fahrt unter dem Wasser, den Händen hinterher, geht durch halbblindes Zwielicht.
Die Kinder im flachen Teil des Beckens begrüßen schon den Kopf, der zwischen ihnen auftaucht. - Beautiful header, Gesine: sagen sie. Sie sagen aber: Dschi-sain, und womöglich meinen sie, daß sie einen Kopfsprung so nicht gelernt haben. A curious header, Mrs. Cresspahl.
Die Kinder von der West End Avenue, dem Riverside Drive halten den Mediterranean Swimming Club besetzt in dieser Zeit zwischen Ende der Arbeit und letzter Mahlzeit. Sie dulden unter sich die tapfer rudernden Greisinnen in ihren Blumenkappen, sie halten die jugendlichen Athleten im Auge, die mit Gewaltmärschen unter Wasser dem Verfall ihrer Körper vorbeugen wollen, und es ist leiser in der Ecke, in der eine einsame Ehefrau stillsteht, gewissenhaft und geniert mit einem Kriechling auf der Hüfte. Aber die Sprungbahn räumen die Kinder eher für ihresgleichen, die Erwachsenen lassen sie warten oben auf dem Brett, und Jungen wie David Williams machen sich einen Spaß daraus, unverhofft unter den verbissen strampelnden Muskelmännern hindurchzutauchen.
Sie haben den Kopfsprung anders gelernt. Der Ruck, den die vorschnellenden Arme durch den ganzen Körper bis in die Knöchel ziehen, er ist nicht zu sehen. Sieh dir diese Marie Cresspahl an, seit sechs Jahren erst im Lande, sie gleitet in einer einzigen unabgesetzten Bewegung vom Beckenrand ins Wasser, wie ein Fisch auf der Rückreise ins geheurere Element. Es ist, als ließe sie sich fallen; so ohne sichtbaren Abstoß springt sie. Marie übt mit ihren Freundinnen das Tauchen, mit Pamela Blumenroth, mit Rebecca Ferwalter; sie werfen aber nicht Geldstücke auf den Grund des Beckens, sondern die Schrankschlüssel, deren stumpfe Farbe sie tarnt. Ohne Schlüssel kämen sie aus dem Bad nicht mehr hinaus, in ihrem schadenfrohen Geschrei sitzt auch Ängstlichkeit, und wenn Marie aus dem Tiefen aufsteigt, die Hand mit dem geretteten Schlüssel steil voran, ist doch Erleichterung zu merken in ihrem kleinen, nassen, von Freude straffen Gesicht. Nachher, wenn sie sich die stramme Kappe vom Kopf zieht, wird sie inmitten ihrer langen winterblonden Haare älter aussehen als ihre zehneinhalb Jahre. Im weißen Rahmen der Kappe ist der unausgewachsene Bogen ihrer Augenhöhlen unter der gedrungenen Stirn ausgestellt wie allen Schutzes entblößt.
Oberhalb des lärmenden Wassers, in halber Höhe des blaukachligen Raums, läuft um zwei Wände ein Balkon, die Rückseite der Bar Marseille, wo die paarsitzigen Tischchen aufgestellt sind. So alt ist das Hotel. Den Kunden von 1895 genügte es noch, von oben, von ferne hinabzusehen auf die Badenden, die knapp Bekleideten; in einem Bau von heute würden die Trinker die Hocker an den Rand des Beckens wünschen, oder daneben, hinter eine durchsichtige Panoramawand. Dennoch kommt Mr. McIntyre dort oben kaum je zum Stillstand vor seinen neunundneunzig Flaschen Feuerwassers; in diesem Viertel wohnen genug Leute, die sich gern verabreden inmitten der rothölzernen Wände, die jeden Tag ein bißchen wohnen auf dem blankgesessenen Leder und den massigen Wulst der altersglänzenden Mahagonitheke mit ihren Ellenbogen putzen. Dort oben hat vor sechs Jahren eine Gesine Cresspahl zu lange gesessen und an irischen Redensarten einen falschen Eingang in das hiesige Leben gesucht, oft in der Nachbarschaft von Mr. Blumenroth, der damals nicht aussah wie ein Vater von Pamela. Immer noch haben die Juden die Obere Westseite nicht ganz aufgegeben, Juden sind hier erwünscht; aber in sechs Jahren noch nie hat sich an der zierlich durchbrochenen Brüstung der Kopf eines dunkelhäutigen Bürgers gezeigt, und wie es oben nicht die Preise Mr. McIntyres sind, die Neger von einem Besuch des Marseille abhalten, so machen es unten nicht allein die sechzig Dollar Jahresgebühr, daß die
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