Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
nun in ausländischer Sprache. Es ist das Amerikanisch des Mittelstands, diszipliniert durch eine Traditionsschule, vorsichtig gegen Slang. Was sie dann aber spricht, damit lebt sie. Oft muß ich, mit meinem Dolmetscherdiplom, nachschlagen. Serendipity. Gegenwärtig hat sie es mit den umständlichen Redensarten: I scorn the action, wenn es um ungenehme Arbeiten geht. Neuerdings ist eine Art Entschuldigung: I stand corrected, und das mit dem Akzent der Upper West Side von New York, für den Sie so leicht keine Zensur fänden.
Deutsch spricht sie, als hätte sie Schmerzen im Hals. Wahrscheinlich mußte sie die mitgebrachte Sprache opfern, um bequemer anwachsen zu können in der Straße, der Schule, der Stadt. Düsseldorf, Berlin, Jerichow, für sie ist es Geographie. Germany. An Ferien in Dänemark erinnert sie sich besser. Sie jetzt in die deutsche Sprache zurückbringen, es wäre ein größeres Unglück für sie als der Umzug ins Amerikanische war. Ihr wäre es lieber, wir hätten einen richtigen Paß, einen hiesigen.
Über Weihnachten in New York werde ich Ihnen Auskünfte nicht so vollständig geben können, wie Sie sie benötigen. Die optische Belästigung beginnt ungerechtfertigt früh, bis zu vier Wochen vorher. Der Kommerz schlägt als erster zu, nicht nur mit der gezielten Dekoration. Die Kaufhäuser hämmern dem Kunden auch noch akustisch ein, aus welchem Grunde er diesmal sein Geld hergeben soll; Weihnachtsmusik und Unsere garantiert aus Paris importierte Unterwäsche. Auf den Straßen kriecht die Heilsarmee aus den Nestern; Posaune und Klingelglöckchen. Schließlich stellt noch die schäbigste Bar einen elektrifizierten Winzling von Weihnachtsbaum zwischen die Flaschen. Die Reichen an der Park Avenue, die sommers ihren Mittelstreifen mit Blumen bepflanzen und aus »außerhalb der Stadt liegenden Quellen« bewässern, stellen sich dann große, stark beleuchtete Tannenbäume hin, aber nicht ganz bis zur 96. Straße, wo die Gegend der Armen, der Neger beginnt. Tannenbäume liegen auch bei uns auf dem Broadway, nachts mit Kükendraht zu dicken Mieten verschnürt, tagsüber frei aufgestellt, jeder Baum mit eigenem Ständer. Sieht aus wie Luxusware. Das wird für die europäischen Immigranten feilgehalten, die der ersten Generation. Die der zweiten haben die Stechpalmenzweige schon adoptiert. Da bei uns Marie über die Dekoration verfügt, haben wir Stechpalme. Holly. Für wichtig genommen werden noch die Festpostkarten, die der Empfänger auf dem Kamin aufstellen kann zum Zeichen, bei wie vielen Postkunden er beliebt ist und wie viele darunter mit aufwendiger Ausführung von Druck und Grafik von einer wohlhabenden Lebensführung künden können. Wir haben keinen Kamin. Auch die »Bescherung« am 24. abends hat Marie bald auf den amerikanischen Termin verlegt, in ihrer Geringschätzung für europäische Sitten. Dazu braucht man einen Strumpf, der an den Kamin zu hängen ist. Den Strumpf hätten wir zwar. Es ist sodann die Aufgabe eines Individuums namens Saint Nicholas, alias Santa Claus, alias Santa, den Strumpf in der Nacht mit Geschenken aufzufüllen. Sie würden ihn schon erkennen, diesen dispenser of gifts:
He has a broad face and a little round belly,
That shakes when he laughs like a bowlful of jelly.
Für Marie muß das so abgewickelt werden, weil sie es für eine vorgeschriebene Zeremonie hält. In einem mehr technischen Sinne hätte sie wohl Lust, mit ihren jüdischen Freundinnen Chanukah zu feiern. Nun weiß ich nicht, wie das deutsch geschrieben wird. Sie hat sich ausführlich unterrichten lassen, daß dies Fest gefeiert wird vom 25. Tag des Monats Kislev bis zum 2. Adar, und zwar zum Andenken an die neue Weihung des Tempels durch die Makkabäer nach ihrem Sieg über die Syrer unter Antiochus dem Vierten. Dies ist auch dem geneigten Hausfreund gewißlich bekannt. Maries Fest ist am Dienstagmorgen unwiderruflich zu Ende, einen Tag früher als bei Ihnen, aber das ihrer Freundinnen Pamela und Rebecca hat am Dienstagabend erst seinen Anfang, und an jedem seiner acht Tage bekommen die Kinder etwas geschenkt! Vielleicht ist Ihnen weiterhin bekannt, daß Chanukah mit dem Anzünden der Menorah eröffnet wird, des neunarmigen Kerzenhalters. Aber wir mögen mit jüdischen Nachbarn befreundet sein, wir mögen als Ausnahme von den Deutschen der Zwölf Jahre gelten, wir bleiben die Gois für sie, und Marie wird nicht dabei sein dürfen, wenn Mr. Ferwalter seine Menorah ansteckt. Übrigens werfen die
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