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Jahrestage 2

Jahrestage 2

Titel: Jahrestage 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Strelitzschen; er erzählte es auch so. Niebuhr mußte seinen Hoch- und Landesverrat gar nicht selber einleiten; es war ein sowjetischer Offizier, der Ewert den Hörer wegnahm und Angaben über die Lage in Wendisch Burg verlangte. Da er die deutsche Sprache fast ohne fremde Anklänge benutzte, mußte Niebuhr ihn bitten, doch einmal etwas Russisches zu sagen. - Ich verstehe Sie nicht; sprechen Sie bitte Hochdeutsch: sagte der Russe auf russisch. Niebuhr glaubte immer noch an eine Falle der S. S. und mußte noch einmal nach Ewert verlangen. - Das sind die Russen, am ganzen Leibe! bestätigte ihm Ewert, und nun, nach dem zeitraubenden und berechtigten Mißtrauen, bekamen die Sowjets ihr Feindbild. Die S. S. war am Geburtstag des Österreichers in Wendisch Burg eingerückt und hatte der Stadt unverzüglich ein Geschenk für die Gelegenheit auferlegt. In einem Halbkreis um das Südertor hatte die Bevölkerung Panzergräben ausheben müssen. Die Straße sah unversehrt aus, war aber für die Sprengung vorbereitet. Das Tor sah einladend aus, offen, wie ein Denkmal, ganz wie in den Reiseführern; es waren aber dahinter Schienen gelegt, auf denen eine Wand aus soliden Steinen quergeschoben werden konnte. Hier, links und rechts an der Stadtmauer, hatte die S. S. Maschinengewehre aufgebaut. In der Stadt war noch ein Trupp, der die Oberschule bewachte. Dort wurden Häftlinge aus aufgelösten Konzentrationslagern gehalten, die weiter nicht hatten getrieben werden können. Die Wachmannschaft sollte die Häftlinge erschießen, sobald der Sieg in Wendisch Burg fraglich wurde. Martin Niebuhr bestätigte dem Mann am anderen Ende der Leitung sehr verlegen, daß unter den Todeskandidaten sowjetische Staatsbürger waren. An den Hafen hatte die S. S. nicht gedacht; die Stadt war gegen den ganzen Untersee offen. Im Norden lag Wehrmacht; diese Truppe hatte aber schon weiterziehen wollen, bevor die S. S. sie unter ihren Befehl nahm. - Ich danke Ihnen für Ihren Kampf für den Frieden: sagte die Stimme in dem sonderbaren, sorgfältigen Deutsch zu Niebuhr, so daß er mit Kopfschütteln zurückkam in das Wohnzimmer zu seinen Gästen. Er erzählte ihnen, daß er telefoniert hatte. Ihm sei von Ewert gesagt worden, die Sowjets kämen in einer halben Stunde.
    Sie kamen von Norden nach Wendisch Burg herein, als es eben noch dunkel war, sie trafen an der Seeseite der Stadt die Abteilungen, die gegen Mitternacht über den See gekommen waren, und geschossen wurde nur an der Oberschule, nicht lange. Erst als sie die Häftlinge frei hatten, kümmerten sie sich ernstlich um die S. S. am Südertor, und die Reste der S. S. fuhren eilig an der Schleuse vorbei und nahmen die erste Abzweigung in Richtung Westen. Dann zogen die Pioniere bei Niebuhr ihre Uniformen aus, verkauften ihm das Dynamit und das Motorrad, zogen zu Fuß durch den Wald in Richtung Müritz, zu einem Dorf, in dem Martin Niebuhr Leute kannte.
    Am nächsten Tag zog die Rote Armee förmlich in Wendisch Burg ein, die Fahne voran, zwischen den unversehrten Fachwerkgiebeln Wendisch Burgs. Gewiß ist viel telefoniert worden in dieser Nacht.
    Cresspahl schloß seine Geschichte mit dem Spruch, der in den Balken eines Hauses in der Alten Straße von Wendisch Burg gehackt ist, drei Häuser von der Post, und vielleicht ist er immer noch zu sehen: ALLEN / ZU GEFALLEN / TUT EIN / MALLEN .
    Du sollst mich nich unter die Leute bringen, Gesine. Harr Cresspahl man blot dat Muul hollen.
    Ist es nicht wahr, Niebuhr, lütten Onkel?
    Wahrheit. Wahrheit. Schietkråm.

12. April, 1968 Karfreitag
    Jedoch die Bank arbeitet.
    Und de Rosnys Freunde im Finanzministerium scheinen weniger zuverlässig als er wünschen mag. Die Regierung will nicht von sich aus verhandeln über die Rückgabe der tschechoslowakischen 20 Millionen Dollar in Gold, sondern besteht auf einem Angebot aus Prag. Eine Begründung sagt: Um Mr. Dubček bei seinen Reformen nicht zu kompromittieren.
    – Ein gelehriges Volk seid ihr: sagte Mr. Shuldiner gestern abend am Telefon. Einer der Anführer des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, Rudi Dutschke, der aber der gewaltsamen Umwälzung der Gesellschaft (laut Zitat) die Änderung durch das Argument vorzog, wurde gestern nachmittag in Westberlin von einem Unbekannten mit drei Schüssen getroffen. Mr. Shuldiner wollte sich gegen Mrs. Cresspahl gefällig zeigen. Die Deutsche sollte die deutsche Nachricht nicht zu spät erfahren. Die Deutschen ein gelehriges Volk. So sieht es von draußen

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