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Jahrestage 2

Jahrestage 2

Titel: Jahrestage 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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kostete heute nichts. Wenn du aussiehst wie ein Student der marschieren geht, fahren die Ostdeutschen dich umsonst.
    – Weil sie sich ja nicht in die inneren Verhältnisse Westberlins einmischen.
    – Prinzipiell nicht. Was macht ihr.
    – Gestern abend waren wir auf Coney Island, bloß um bei Nathan Würstchen zu essen, ach komm doch her. Würd es dir alles zeigen. Alles. Gegen halb acht fuhren wir ab, um zwanzig nach acht fielen die Neger über die Gegend her, Surf Ecke Stillwell Avenue, Jungen, Kinder! schlugen die Schaufenster ein, prügelten sich mit der Polizei. Ein Polizist bekam eins mit der Flasche über den Kopf, den haben sie sechsmal nähen müssen. Dann kreiselte das Handgemenge in die Subway, in die Züge, da rasten die Neger durch die Gänge, schmissen Weiße zu Boden, raubten sie aus, schlugen die Fenster ein –
    – Wegen der Ermordung Kings.
    – Wegen Martin Luther King. Und es war sehr heiß. Aber die Stadt ist wieder in Ordnung.
    – Was hast du denn, Gesine!
    – Glaubst du denn, die Bürger haben heute nicht ihre Osterparade auf der Fünften gemacht, mit Modenschau, Nehrujacken und Frühlingshüte, quietschvergnügt wie die jungen Hunde!
    – Aber es ist doch erst eine Woche her, daß sie Martin Luther King umgebracht haben!
    – So ein Land ist das.
    – Wart ihr bei der Parade?
    – Wir nicht.
    – Trotzdem, Gesine, komm du nicht zurück. Es wird auch hier nichts.
    – Sprich dich rein aus, Anita.
    – Gesine. Unsere Kinderwünsche.
    – Sozialismus etcetera.
    – Ja. Du ich war gestern in einem Teach-in in der Technischen Universität, und die jungen Leute haben mich wahrhaftig nicht hinausgeworfen. Sie diskutierten, wieso denn sie immer wieder verprügelt und auseinandergetrieben werden von der Polizei. Wie es kommt, daß nur zwanzig Wagen da sind, um die Auslieferung der Springerzeitungen zu blockieren, wenn aber sechshundert bis achthundert erwartet wurden. Da stand ein junger Mann auf, 23 Jahre, Student der Psychologie, und erklärte den Leuten die Sache. Er sei zur letzten Demonstration nicht gekommen, weil das Auto seinem Vater gehöre. Nun kann er doch nicht hingehen und es einer Gefahr aussetzen. Mit der Gesellschaft will er wohl brechen, aber doch mit dem Vater nicht. Das Eigentum anderer zerschlagen; aber doch nicht das eigene kaputtmachen lassen. Und dazu das Gerede von der Arbeiterklasse, die für die Umwälzung der Gesellschaft gewonnen werden soll. Mit einem Vokabular, für das schon ein studierter Mensch einen Sonderkurs braucht.
    – Sei nicht so wütend.
    – Und zusammengeschlagen oder erschossen werden kannst du da ja auch, Stillwell Avenue oder Riverside Drive.
    – Du, mir tut dein Rücken leid.
    – Gesine, stimmt das mit der Pest? Daß sie aus Viet Nam zu euch eingeschleppt wird?
    – Das kannst du bei 5000 Fällen im Jahr nicht anders erwarten. Einer wird wohl einen Amerikaner anstecken.
    – Das steht bei euch in der Zeitung?
    – Ja. Was macht ihr? Außer dem Geschäft?
    – Außer dem betreiben wir noch das Geschäft. Und der Alte ist auf Vortragsreise in Polen.
    – Ihr brecht euch noch das Kreuz. Frechheit!
    – Wir sind ein vornehmes akademisches Ehepaar, Gesine, davon sollst du dir eine Scheibe abschneiden. Wer käme wohl auf die Idee, daß Leute wie wir ein Reisebüro ohne Rückfahrkarten unterhalten?
    – Ich nicht.
    – Warum kommst du nicht mehr und willst, daß ein Mensch von Rostock nach Lübeck fährt? wir würden es dir zu den Selbstkosten machen.
    – Meine Leute da sind meist tot, und die Kinder aus meiner Klasse sind gegangen. Die gehen wollten.
    – Das schöne Geld, das wir hier unter den Atlantik stecken.
    – Nicht wahr.
    – Wie spät ist es bei euch?
    – Sechs am Nachmittag. Der Park vor dem Haus ist ganz bunt von Leuten auf dem Rasen.
    – Weiter.
    – Der Himmel über dem Hudson ist leergepustet bis auf ein paar fette weiße Wolken. Die Pallisaden sind jetzt braun, und darüber die Hochbauten blitzen im Licht. Es flirrt so zwischen dem dünnen Laub, verstehst du.
    – Und Marie.
    – Ist schwimmen gegangen.
    – Wie im Frieden.
    – Und ihr habt tiefe Nacht. Liegst du im Bett?
    – Mit krummem Rücken im Bett. Tiefe Nacht, und über dem Kopf das Postflugzeug. Gute Nacht, New York.
    – Gute Nacht, Berlin. Komm her.
    – Du ich tu’s noch, und bloß deinetwegen. Stell dir das vor!
    – Ja.

15. April, 1968 Montag
    5 : 20 p. m.
    Zwei Neger stehen auf der Westseiten-Ubahn zwischen zwei Wagen und singen Jaulendes, Klagendes, mit

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