Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Wettervorhersage für heute: Sonnig und milde. Nicht dieser scharfe Regen.
Helles, ebenmäßig von Hitze abgestütztes Wetter, es war Marie nicht recht als einzige Erinnerung an den ersten Sommer der Neuen Zeit in Jerichow, und es ist doch fast einundneunzig Jahreszeiten her, und mehr als sechstausend Kilometer entfernt. Faulheit beim Erzählen nannte sie es. Hockte vor dem Ferienkamin, zog dem Feuer neue Stützen ein, bis sie im umsichtigen Arbeiten den Kienspan fand, der zum anderen Feuermachen taugte. – Die Russen sollen nicht fair gewesen sein als Sieger: sagte sie.
Sag es ihr, Gesine.
Damals war ich ein Kind. Zwölf Jahre alt. Was kann ich wissen?
Was du von uns gehört hast. Was du gesehen hast.
Sie wird das Falsche benutzen.
Sie ist ein Kind, Gesine.
Die Toten haben leicht reden. Seid ihr aufrichtig gewesen zu mir?
Mach es besser als wir.
Und damit sie weiß, wohin sie mitkommen soll, und zu wem.
Und uns zuliebe, Gesine. Sag es ihr.
Jerichow, all das westliche Mecklenburg war noch besetzt von britischen Truppen, abgesperrt durch bewaffnete Linien, und längst waren die Sowjets angekommen, nicht zu sehen und doch anwesend in Gespräch wie in den verschwiegenen Ängsten: als Gerücht. Sie waren nicht mehr die undeutlichen Untermenschen, die Volksaufklärung und Propaganda der Reichsregierung seit 1941 in Deutschland eingepflanzt hatten; nicht einmal waren sie die fotografischen Aufnahmen aus ostpreußischen Dörfern, wo deutsche Einheiten noch einmal hatten zurückstoßen und auf den Auslöser drücken dürfen vor mißhandelten Frauenleichen, an Scheunentore genagelten Kreuzen von Männern; die Reichsregierung hatte zu viele Nachrichten erfunden und mit falschen Bildern beweisen wollen. Bei meinem Vater lag ein Kind krank, Hannah Ohlerich aus Wendisch Burg, deren Eltern hatten der Reichsregierung nicht viel geglaubt als eben dies Letzte und hängten sich auf am Hals: vor der Zeit, bevor sie die Fremden aus dem Osten mit eigenen Augen, eigenen Ohren wahrgenommen hatten: sagten die Überlebenden, auch Leute in Jerichow, sicher unter britischer Verwaltung. Dann, schon Anfang Mai, kamen die Gerüchte nicht mehr von der verkommenen Reichsregierung, sondern von Freundschaft und Verwandtschaft aus dem restlichen Mecklenburg, dem sowjetisch besetzten, und waren fast Nachrichten. In Waren hatte ein Gegner der Nazis, bis zuletzt der »rote Apotheker« genannt, eine ganze Nacht gefeiert mit seinen Befreiern aus der Sowjetunion, bis sie doch allen Frauen im Haus Gewalt antaten und die Familie sich ums Leben brachte mit der giftigen Medizin, die gar nicht für solchen Zweck gespart worden war; die Nachricht saß fest an einem Namen, einem Marktplatz, einem Geschäft unten in einem Giebelhaus. In Malchin, in Güstrow, in Rostock hatten die Gerüchtmenschen versucht, Kartoffeln in Klosettschüsseln zu waschen, indem sie an der Kette zogen, und die nichtsahnenden Deutschen wegen der wegspülenden Sabotage mit Schußwaffen bedroht. Aus Wismar wurde berichtet, es hätten nächtens drei sowjetische Soldaten zwischen den britischen Posten hindurch einen Regulator zu einem Uhrmacher geschleppt, damit er ihnen daraus dreizehn Uhren für die Handgelenke anfertige; denn solche waren im sowjetmecklenburgischen Gebiet knapp geworden durch die ausländische Gewohnheit, stehende Uhren nicht aufzuziehen und als kaputt ins Gebüsch oder Wasser zu werfen. Eine Menge Schloßsitze waren niedergebrannt, weil die plündernden Schemen an elektrische Beleuchtung nicht glaubten, selbst wenn sie noch geliefert wurde, und sich das Suchlicht aus Fidibussen von Papier herstellten. Für ein Mikroskop aus der pathologischen Abteilung einer Universitätsklinik ließen die sich zwei Flaschen Likör verkaufen, sie schossen mit scharfer Munition auf Tauben, und zum schwermütigen Singen waren sie angeblich gar nicht imstande. Dies alles, und ihre Vernarrtheit in Kinder, war unglaublich und bekannt in Jerichow, als die Briten abzogen, und noch einmal ertränkten, erhängten und vergifteten sich Bürger und Flüchtlinge in der Stadt, aber nicht alle aus Angst vor der neuen Besatzung: Pahl hatte nicht gewußt, wohin nun ziehen, und Dr. med. Berling hatte das ganze Studieren nicht geholfen gegen die Schwermut. Die anderen blieben, am 3. Juli dreieinhalbtausend geschätzte Personen, in Jerichow.
– Aus Neugier? sagte Marie vorgestern. Sie hatte sich nicht oft genug zum Lachen bringen lassen; sie hielt ihr Gesicht dicht am Kaminfeuer versteckt, den
Weitere Kostenlose Bücher