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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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die strengen Satzmelodien der Einheimischen? Hörte die Andere nicht zu, und ließ sich Worte wiederholen, als wolle sie lernen? Wer machte die Familie Cresspahl zu angesehenen Kunden in Maxies Obstmarkt wie bei Schustek, wenn nicht das Kind, das die Ware vorkostete und den Einkauf mit Kopfnicken guthieß? Wer wußte als Erste, daß Rebecca Ferwalter kein beliebiges Kind war, sondern den Sonnabend Sabbath nannte? Wer sorgte dafür, daß wir auf der 95. Straße den nördlichen Bürgersteig entlanggingen, nicht bei den Puertorikanern auf der anderen Seite und ihrem Grund zum Streit, den das Kind schon gemerkt hatte, als die Andere immer noch von den »fröhlichen Häusern« redete? In der Subway, wer wußte deren Namen gleich auf Amerikanisch auszusprechen, und war es nicht das Kind, das unter den Routen zum Atlantik die schnellste herausfand? Daß der Bürger in diesem Lande seinen Polizisten anredet mit »sir«, auch wenn Unfall oder Feuersbrunst dringender sind, wer mußte dies der Älteren erklären? Die Jüngere, die überlegene.
    Siege. Und doch, wie langsam geriet die Abtrennung, die Unabhängigkeit in diesem Gelände des Kräftemessens, des Wettbewerbs, des Kampfes, des Trainings – wie lange mußte Marie den eigenen Leumund noch beziehen von der Anderen, der unausweichlich Vorgesetzten! Sie war inzwischen »my mother« geworden, für Auskünfte in der Schule, sachlich erteilt oder zu Zwecken der Verteidigung. Meine Mutter stammt aus einem kleinen Ort an der Baltischen See; jedoch ihr Vater ist wohlhabend gewesen. Das Kind von Mrs. Cresspahl sollte seine Mutter mit dem Vornamen anreden, mit »Dschi-sain« im Scherz, durfte ihr im Scherz bemutternde Ratschläge geben. Das Kind von Mrs. Cresspahl kannte in der Schule nicht viele Mütter, die das Geld mit eigener Arbeit verdienten, und Marie zog es vor, darauf stolz zu sein. Die Schülerin Cresspahl hatte eine Mutter, deren oberster Akzent klang ausländisch, wenngleich britisch. Cresspahl las sich die Augen wund wie die Finger krumm im Schuljahr 1964/65, nicht eine Streberin, nur ihrer Mutter wegen, die ein Kind mit ungenügenden Zensuren zurückbringen wollte nach Europa. Mary Cresspahl, vierte Klasse, sie mochte aus eigenem Schick bestehen auf der Anrede »M’rie«, vielleicht hatte sie sich auch das mit den Zöpfen allein ausgedacht, eine Petze war sie nicht, sie war firm im Jargon der Schule; ihr Verhalten in Religion hatte sie von ihrer Mutter bezogen, das zu den Juden auch, das zu Versprechen desgleichen, alles europäische Sachen womöglich, aber Fremdes. Marie war früh auf Kinder getroffen, die sprachen harmlos von Haß gegen ihre Eltern; vielleicht war es nur das Aussprechen, das Marie sich noch verbot.
    »Das Leben mit meiner Mutter war nicht leicht«: solchen Satz mag Marie denken können, wenn auch im Englischen versteckt, und als Vorrat für eine Zukunft, in der ein Zuhörer noch nicht ausgesucht ist. Die Mutter hatte aus ihrem Europa Ideen mitgebracht, die sollte das Kind hier gebrauchen. Alle Menschen seien mit gleichen Rechten ausgestattet, oder zu versehen. Wie konnte Marie danach handeln? Sie konnte der Mutter zeigen, daß sie für eine schwarze Frau im Bus den Sitzplatz eben so beiläufig räumte wie für eine Rosane, sie kann zu Jason in unseren Keller steigen und ihn trösten über die lange lange Zeit bis zum Sonnenuntergang; aber die einzige schwarze Francine in der Schulklasse unter eine europäische Obhut nehmen, wie sollte das ausgehen mit den hellhäutigen Freundinnen? Davon mußte etwas fehlen in Erzählungen zu Hause, und am übelsten war das unablässige Vertrauen der Mutter auf eine Wahrheit, die durch die Lüge nun erst entstand, zusammen mit anderen Unternehmungen zugunsten Francines, die Marie erst recht hatte vermeiden wollen. Die Mutter lehrte einen Unterschied zwischen gerechten und ungerechten Kriegen; wie kann ein Kind von der Jahreszahl 1811 (Aufstand der Shawnees unter Tecumseh) noch einmal überleiten auf den amerikanischen Krieg in Viet Nam, wenn schon der erste Versuch Freundschaften und fast eine Zensur riskiert hatte? Privat, auf eine nicht verbindliche Weise gegen den Krieg von heute reden, es ließ sich einrichten, vielleicht in der Hoffnung, die Mutter werde solch eigensinniges Auftreten auch in der Schule annehmen. Aber die Hoffnung war ungefähr, es saß die Lüge in Antwort wie Frage wie Verschweigen, und gerade die Lüge wollte die Mutter ausgeschlossen wissen. Begriff sie denn nicht, daß ihr Kodex

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