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James, Henry

James, Henry

Titel: James, Henry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benvolio
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vorhanglosen Fenstern vorbeisegeln. Befindet man sich weiter hinten im Zimmer,
hat man das Gefühl, sie gehörten zu einem Meereshimmel, und tatsächlich sieht man, wenn man näher kommt, draußen die weite, graue See, in die der Himmel übergeht. In diesem Teil der Stadt herrscht vollkommene Ruhe. Es ist, als sei jede menschliche Betriebsamkeit aus ihm gewichen, um nie mehr zurückzukehren, und nur eine Art melancholischer Resignation zurückgeblieben, die alles überlagert. Die Straßen sind sauber, freundlich und luftig, doch gerade dieser Umstand scheint einen den eindringlichen Ernst, der allenthalben herrscht, nur noch stärker empfinden zu lassen. Er deutet darauf hin, dass der weite Himmel in das Geheimnis ihres Niedergangs eingeweiht ist. Die anhaltende Stille hat etwas Gespenstisches. Oft hören wir das Geklapper von den Werften und die Befehle, die auf den im Hafen ankernden Barken und Schonern ausgegeben werden, bis hierher.

    28. Juni. – Mein Experiment funktioniert viel besser, als ich es zu hoffen gewagt habe. Ich fühle mich äußerst wohl; mein Seelenfrieden übertrifft meine kühnsten Erwartungen. Ich arbeite eifrig; mir gehen nur angenehme Dinge durch den Kopf. Die Vergangenheit hat ihre Schrecken beinahe verloren. Seit einer Woche bin ich
jetzt jeden Tag zum Zeichnen draußen gewesen. Der Kapitän setzt mich mit dem Boot an einem bestimmten Punkt an der Küste in der Nähe des Hafens ab, und ich wandere quer über die Felder zu einer Stelle, wo ich eine Art Rendezvous mit einem Fels und dem Schatten habe, den er besonders effektvoll wirft; bisher hat sich dieses Naturschauspiel recht zuverlässig an unsere Verabredung gehalten. Hier stelle ich meine Staffelei auf und male bis zum Sonnenuntergang. Dann gehe ich zurück zum Ausgangspunkt, wo der Kapitän mich wieder abholt. Alles ist sehr ermutigend. Der Horizont meines Schaffens erweitert sich zusehends. Und außerdem macht mich die Überzeugung, dass ich für ein Leben in (bescheidener) Arbeit und (relativer) Entbehrung offenbar nicht gänzlich ungeeignet bin, unsagbar glücklich. Ich bin in meine Armut richtig verliebt, wenn ich so sagen darf. Warum auch nicht? Unter diesen Umständen gebe ich keine achthundert im Jahr aus.

    12. Juli. – Seit einer Woche haben wir schlechtes Wetter: Dauerregen, Tag und Nacht. Dies ist zweifellos gleichzeitig die heiterste und die düsterste Gegend in ganz Neuengland. Der Himmel hier kann lächeln, gewiss; aber wie finster
er auch dreinschauen kann! Ich habe eher lustlos und bei recht ungünstigen Bedingungen an meinem Fenster gemalt… In diesem strömenden Regen macht Miss Blunt sich auf den Weg zu ihren Schülern. Sie hüllt ihren hübschen Kopf in eine große wollene Kapuze, ihre schöne Figur in eine Art feminin geschnittenen Mackintosh 12 ; ihre Füße steckt sie in schwere Überschuhe, und über dem Ganzen balanciert sie einen Stoffschirm. Wenn sie nach Hause kommt, bietet sie mit den Regentropfen, die auf ihren roten Wangen und dunklen Wimpern glitzern, ihrem schlammbespritzten Mantel und ihren von der feuchten Kälte ganz roten Händen einen äußerst erfreulichen Anblick. Ich versäume es nie, sie mit einer besonders tiefen Verbeugung zu begrüßen, wofür sie mich mit einem außerordentlich liebenswürdigen Lächeln belohnt. Diese Alltagsseite ihres Charakters gefällt mir an Miss Blunt besonders. Diese hehre Alltagstracht aus Schönheit und Würde kleidet sie mit der Schlichtheit eines antiken Gewandes. Wenig Verwendung hat sie für Fischbeinstäbe 13 und Volants. Welch eine Poesie versteckt sich doch hinter roten Händen! Ich küsse die Ihren, Mademoiselle. Ich tue es, weil Sie sich selbst zu helfen wissen; weil Sie sich Ihren Lebensunterhalt
selbst verdienen; weil Sie aufrichtig , schlicht und (obwohl doch eine verständige Frau) unwissend sind; weil Sie zur Sache sprechen und zielstrebig handeln; weil Sie, kurz gesagt, so ganz anders sind als – manche Ihrer Schwestern.

    16. Juli. – Am Montag klarte es weitgehend auf. Als ich nach dem Aufstehen ans Fenster trat, erinnerten Himmel und Meer in ihrer Heiterkeit und Frische an ein gelungenes englisches Aquarell: 14 Die See ist von einem tiefen purpurnen Blau; darüber sieht der wolkenlose heitere Himmel geradezu blass aus, während er sich über dem Land in unendlicher Intensität wölbt. Hier und da schimmert auf dem von einer leichten Brise bewegten dunklen Wasser eine weiße Schaumkrone, flattert das weiße Segeltuch eines Fischerbootes. Ich

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