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Jan Fabel 05 - Walküre

Titel: Jan Fabel 05 - Walküre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Russell
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der Presse, von Postern in Schaufenstern kannte. Eine vertraute Person, aller­dings vertraut aus einem parallelen Universum.
    Sie zögerte einen Moment lang. Wegen seiner Position wür­den noch andere da sein. Begleiter. Leibwächter. Sie trat zurück in den Schatten. Doch dann sah sie, dass er wirklich allein war. Er bemerkte sie nicht, bis er sie fast erreicht hatte und bis sie sich aus dem Schatten hervorschob.
    »Hallo, ich kenne dich«, sagte sie auf Englisch.
    Er blieb stehen. Einen Augenblick lang war er verblüfft. Un­sicher. Dann erwiderte er: »Natürlich kennst du mich. Jeder kennt mich. Bist du meinetwegen hier?«
    Sie öffnete ihren Mantel und entblößte ihre Nacktheit. Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. Sie schlang den Arm um ihn und zerrte ihn in den Schatten. Er legte die Hände unter den Mantel auf ihre Haut, die sich in der kalten Winternacht heiß und sanft anfühlte. Auch ihr Atem war heiß, als sich ihr Mund seinem Ohr näherte.
    »Ich bin deinetwegen hier«, sagte sie.
    »Ich hatte andere Pläne«, protestierte er atemlos, aber er ließ sich tiefer in die Dunkelheit ziehen.
    »Und ich bin nicht wegen deines Autogramms gekommen.« Ihre Hand glitt an seinem Bauch hinunter. Umfasste ihn.
    »Wie viel?« Seine Stimme war ruhig, doch gespannt vor Er­regung.
    »Wie viel?« Sie trat zurück, schaute ihm in die Augen und lächelte. »Nein, Schatz, das kostet nichts. Du wirst es nie ver­gessen, aber du kriegst es umsonst.«
    Sie wandte den Blick nicht von ihm ab, während sich ihre Hände schnell und geschickt bewegten. Er merkte, wie sein Gürtel gelockert und sein Hemd hochgeschoben wurde. Die kalte Nacht berührte seine nackte Haut.
    Er stürzte zu Boden.
    Die Pflastersteine waren feucht und kalt, und er lachte leise, überrascht über seine Unbeholfenheit. Mit breit gespreizten Beinen lehnte er sich an die Ziegelwand hinter seinem Rücken. Warum war er hingefallen? Seine Beine schienen ihm nicht zu gehören. Er musterte sie und fragte sich, warum sie plötzlich nachgegeben hatten. Dann blickte er zu ihr auf.
    Sie stand über ihm, und das Feuer in ihren Augen beängs­tigte ihn. Jäh übergab er sich, ohne Übelkeit verspürt zu haben. Eine die Knochen durchdringende Kälte ergriff seinen Körper.
    Er betrachtete das Erbrochene, das seine Brust und die Pflaster­steine um ihn herum bedeckte. Es glänzte schwarzrot im trüben Licht.
    Er schaute wieder zu ihr auf, damit sie ihm erklärte, warum er gestürzt war und weshalb er so viel Blut vergossen hatte. Dann sah er die in ihrem Handschuh funkelnde Stahlklinge. Er spürte etwas Warmes und Nasses in seiner Kleidung. Seine zitternden Finger fanden seine Hemdbrust und rissen daran; Knöpfe flogen in die Dunkelheit und prallten auf die Pflas­tersteine. Sein Bauch war aufgeschlitzt, und im Halbdunkel quoll etwas aus der Wunde hervor: grau und schimmernd, feucht und rot gestreift. Dunst stieg aus seinem geöffneten Bauch in die Winternacht empor, und aus der klaffenden Wunde strömte rhythmisch Blut, im Takt mit dem Hämmern des Pulses in seinen Ohren. Ihm war kalt, und er fühlte sich schläfrig.
    Die Frau beugte sich über ihn und wischte an der Schulter seines teuren Mantels das Blut von der Klinge ab. Dann durch­suchte sie seine Taschen mit der gleichen Geschicklichkeit und Präzision, mit der sie ihn aufgeschnitten hatte. Nachdem sie seinen Terminkalender, seine Brieftasche und sein Handy an sich genommen hatte, beugte sie sich zu ihm, und die Hitze ihres Atems drang erneut an sein Ohr.
    »Sag ihnen, wer es getan hat«, flüsterte sie immer noch auf Englisch, immer noch verführerisch. »Dass es der Engel war, der dich aufgeschlitzt hat.« Sie erhob sich und ließ das Messer in ihre Manteltasche gleiten. »Sag es ihnen auf jeden Fall, bevor du stirbst.«
     

III. Vierundzwanzig Jahre vorher: Berlin-Lichtenberg, Deutsche Demokratische Republik, Februar 1984
     
    »Wir reden von Kindern. Wir reden doch von Kindern, oder nicht?« Major Georg Dreschers Frage hing in der rauchge­schwängerten Luft. Alle schwiegen, während eine junge Frau in der Uniform des Felix-Dsershinski-Wachregiments mit einem Tablett hereinkam, auf dem eine Kaffeekanne und mehrere Tas­sen standen.
    Das Ministerium für Staatssicherheit - oder MfS - der Deutschen Demokratischen Republik, von der Bevölkerung, der es angeblich diente, harsch als Stasi abgekürzt, nahm einen ganzen Block im Ostberliner Ortsteil Lichtenberg ein. Der mächtige Raum, in dem Major Drescher

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