Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
ich schnell: »In meinem ganzen Leben habe ich noch keine Tränen um solche Dinge vergossen. Ich hasse die Spazierfahrten. Ich weine, weil ich so unglücklich bin.«
»Schämen Sie sich, Miss!«, rief Bessie.
Der gute Apotheker schien ein wenig verwirrt. Ich stand vor ihm, und er sah mich eindringlich an. Seine Augenwaren klein und grau, nicht sehr leuchtend, aber ich glaube, dass ich sie heute sehr klug finden würde. Trotz der harten Züge hatte er ein gutmütiges Gesicht. Nachdem er mich lange mit Muße betrachtet hatte, sagte er:
»Was hat Sie gestern krank gemacht?«
»Sie ist gefallen«, warf Bessie ein.
»Gefallen! Nun, das ist gerade wieder wie ein Kind! Kann sie bei ihrem Alter denn noch nicht allein gehen? Sie muss doch acht oder neun Jahre alt sein!«
»Jemand hat mich zu Boden geschlagen«, lautete meine derbe Erklärung, welche der Schmerz des gekränkten Stolzes mir eingab, »aber das hat mich nicht krank gemacht.«
Mr. Lloyd nahm bedächtig eine Prise Tabak.
Als er die Tabaksdose wieder in seine Westentasche schob, rief der laute Klang einer Glocke die Dienstboten zum Mittagessen. Mr. Lloyd wusste, was das bedeutete: »Das gilt Ihnen, Bessie«, sagte er, »Sie können hinuntergehen. Ich werde Miss Jane einige Lehren geben, bis Sie zurückkehren.«
Bessie wäre lieber geblieben, aber sie war gezwungen zu gehen, weil man in Gateshead Hall streng auf die Pünktlichkeit bei den Mahlzeiten achtete.
»Der Sturz hat Sie nicht krank gemacht? Nun, was war es dann?«, fragte Mr. Lloyd, nachdem Bessie gegangen war.
»Ich war in einem Zimmer eingesperrt, wo ein Geist umgeht – und es war schon lange dunkel.«
Ich sah, wie Mr. Lloyd lächelte und zugleich die Stirn runzelte. »Ein Geist! Was denn, sind Sie am Ende doch noch ein kleines Kind? Sie fürchten sich vor Geistern?«
»Ja, vor Mr. Reeds Geist fürchte ich mich. Er starb in jenem Zimmer und lag dort aufgebahrt. Weder Bessie noch sonst jemand geht am Abend da hinein, wenn es nicht dringend nötig ist. Und es war furchtbar grausam, mich dort allein und ohne Licht einzuschließen – so grausam, dass ich glaube, ich werde es niemals vergessen können.«
»So ein Unsinn! Das macht Sie so elend? Fürchten Sie sich jetzt bei Tage auch noch?«
»Nein. Aber es dauert nicht lange und dann wird es wieder Nacht. Und außerdem bin ich unglücklich, sehr unglücklich, um anderer Dinge willen.«
»Was für Dinge denn? Können Sie mir die nicht nennen?«
Sosehr ich wünschte, offen und ehrlich auf diese Frage antworten zu können, so schwer war es, die richtigen Worte für eine solche Antwort zu finden. Kinder können wohl empfinden, aber sie können ihre Empfindungen nicht zergliedern, und wenn ihnen die Zergliederung zum Teil auch in Gedanken gelingt, so wissen sie nicht, wie sie das Resultat dieses Vorganges in Worte kleiden sollen. Da ich aber fürchtete, dass diese erste und einzige Gelegenheit, meinen Kummer durch Mitteilung zu erleichtern, ungenützt vorübergehen würde, gelang es mir nach einer Weile schließlich doch noch, eine unzulängliche, aber wahre Antwort hervorzubringen.
»Erstens habe ich keinen Vater, keine Mutter, keinen Bruder und keine Schwester.«
»Aber Sie haben eine gütige Tante, liebe Cousinen und einen Vetter.«
Wiederum hielt ich inne, dann rief ich aus:
»Aber John Reed hat mich zu Boden geschlagen, und meine Tante hat mich im Roten Zimmer eingesperrt!«
Zum zweiten Mal holte Mr. Lloyd seine Schnupftabaksdose hervor.
»Finden Sie denn nicht, dass Gateshead Hall ein wunderschönes Haus ist?«, fragte er. »Sind Sie nicht dankbar, an einem so schönen Ort leben zu können?«
»Es ist nicht mein eigenes Haus, Herr, und Abbot sagt, dass ich weniger Recht habe, hier zu sein, als ein Dienstbote.«
»Dummes Zeug! Sie können doch nicht so dumm sein, zu wünschen, dass Sie einen so herrlichen Ort wie diesen verlassen wollen?«
»Wenn ich nur wüsste, wohin ich gehen sollte, ich wärewahrhaftig froh zu gehen. Aber ich darf Gateshead erst verlassen, wenn ich erwachsen bin.«
»Vielleicht doch auch früher, wer weiß? Haben Sie außer Mrs. Reed denn keine Verwandten?«
»Ich glaube nicht, Sir.«
»Niemanden, der mit Ihrem Vater verwandt war?«
»Ich weiß es nicht. Einmal fragte ich Tante Reed, und da sagte sie, dass ich möglicherweise irgendwelche armen, heruntergekommenen Verwandten namens Eyre haben könnte, dass sie aber nichts über sie wisse.«
»Würden Sie denn zu denen gehen wollen, wenn es solche Leute
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