Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
Teufel sei. Jetzt fasste ich Mut.
»Mein Onkel Reed ist im Himmel und kann alles sehen, was Sie tun und sagen, und mein Vater und meine Mutter auch. Sie wissen, dass Sie mich den ganzen Tag einsperren und dass Sie nur wünschen, ich wäre tot.«
Mrs. Reed fasste sich schnell wieder; sie schüttelte mich heftig, ohrfeigte mich und verließ mich dann, ohne ein weiteres Wort zu sprechen. Bessie füllte diese Lücke aus, indem sie mir eine stundenlange Strafpredigt hielt, in welcher sie mir zweifelsfrei bewies, dass ich das elendeste und pflichtvergessenste Kind sei, das jemals unter einem Dache aufgezogen worden ist. Halb und halb glaubte ich ihr, denn ich empfand selbst, wie in diesem Augenblick nur böse Gefühle in meiner Brust tobten.
November, Dezember und der halbe Januar gingen vorüber. Das Weihnachtsfest und Neujahr wurden in Gateshead in der üblichen fröhlichen Weise gefeiert, Geschenke waren nach allen Seiten hin ausgeteilt und Mittags- und Abendgesellschaften gegeben worden. Ich war natürlich von allen Festlichkeiten ausgeschlossen; mein Anteil an diesen bestand darin, dass ich täglich mit ansehen musste, wie Eliza und Georgiana in ihren zarten Musselinkleidern und rosenroten Schärpen, mit sorgsam gelocktem Haar auf das Schönste herausgeputzt in den Salon hinabgingen. Später horchte ich dann auf die Töne des Klaviers oder der Harfe, die zu mir heraufdrangen; hörte, wie der Kellermeister und die Diener hin und her liefen, wie die Teller klapperten und die Gläser klangen, während die Erfrischungen gereicht wurden. Und wenn die Türen des Salons geöffnet und wiedergeschlossen wurden, drangen sogar abgebrochene Sätze der Konversation an mein Ohr. Des Lauschens müde geworden, verließ ich dann meinen Posten auf dem Treppenabsatz und ging in das stille, einsame Kinderzimmer zurück. Dort, wenn ich auch traurig war, fühlte ich mich wenigstens nicht elend. Offen gestanden hegte ich nicht das leiseste Verlangen, in Gesellschaft zu gehen, denn in der Gesellschaft schenkte mir selten irgendjemand Beachtung. Wenn Bessie nur ein wenig liebenswürdig und freundlich gewesen wäre, so hätte ich es für eine Bevorzugung angesehen, die Abende ruhig mit ihr, anstatt unter den gefürchteten Augen von Mrs. Reed in einem Kreise von mir unsympathischen Herren und Damen zubringen zu dürfen. Aber sobald Bessie ihre jungen Damen angekleidet hatte, pflegte sie sich in die lebhafteren Regionen der Küche und des Zimmers der Haushälterin hinunterzubegeben und gewöhnlich auch noch das Licht mit fortzunehmen. Dann saß ich da mit meiner Puppe im Arm, bis das Feuer herabgebrannt war, und blickte zuweilen ängstlich umher, um mich zu vergewissern, dass sich nichts Schlimmeres als ich selbst in dem düsteren Zimmer befand. Wenn sich dann nur noch ein Häufchen glühend roter Asche auf dem Rost befand, entkleidete ich mich hastig, riss und zerrte mit allen Kräften an den Bändern und Knöpfen meiner Röcke und suchte in meinem Bettchen Schutz vor der Kälte und der Dunkelheit. In dieses Bettchen nahm ich auch stets meine Puppe mit: Jedes menschliche Wesen muss etwas lieben, und da mir jeder andere Gegenstand für meine Liebe fehlte, fand ich meine Glückseligkeit darin, ein farbloses, verblasstes Gebilde zu lieben, das noch hässlicher als eine Miniatur-Vogelscheuche war. In der Erinnerung scheint es mir jetzt unbegreiflich, dass ich mit so alberner Zärtlichkeit an diesem kleinen Spielzeug hängen konnte. Oft bildete ich mir ein, dass es lebendig sei und mit mir empfinden könnte. Ich konnte nicht schlafen, wenn ich es nicht in die Falten meines Nachthemdchensgehüllt hatte, und wenn es dort sicher und warm lag, fühlte ich mich verhältnismäßig glücklich, weil ich glaubte, dass es ebenfalls glücklich sein müsse.
Wie lang schienen mir die Stunden, wenn ich auf das Fortgehen der Gäste und auf Bessies Schritte auf der Treppe horchte. Zuweilen kam sie auch zwischendurch einmal herauf, um ihren Fingerhut und ihre Schere zu suchen oder mir irgendetwas zum Abendbrot heraufzubringen, einen Käsekuchen oder ein Milchbrot vielleicht. Dann pflegte sie auf der Bettkante zu sitzen, während ich aß, und wenn ich fertig war, wickelte sie mich fest in die Decken, küsste mich zweimal und sagte: »Gute Nacht, Miss Jane.« Wenn Bessie so sanft war, erschien sie mir wie das beste, hübscheste, freundlichste Geschöpf auf der Welt, und dann wünschte ich so innig, dass sie stets so fröhlich und liebenswert sein und mich niemals
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