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Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)

Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)

Titel: Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Brontë
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gäbe?«
    Ich besann mich. Armut – das klingt für erwachsene Menschen abschreckend, für Kinder aber noch mehr. Kinder haben keinen Sinn für fleißige, arbeitsame, ehrenhafte Armut, das Wort erweckt in ihnen nur Gedanken an zerlumpte Kleider, kärgliche Nahrung, einen kalten Ofen, rohe Manieren und entwürdigende Laster. Auch für mich war Armut gleichbedeutend mit Entehrung.
    »Nein! Ich möchte nicht bei armen Leuten leben«, war daher meine Antwort.
    »Auch nicht, wenn diese gütig gegen Sie wären?«
    Ich schüttelte den Kopf. Ich konnte nicht begreifen, wie arme Leute überhaupt die Mittel haben sollten, gütig zu sein. Und sollte ich etwa reden wie sie, ihre Manieren annehmen, schlecht erzogen werden, aufwachsen wie eines jener armen Weiber, die ich zuweilen vor den Hütten ihre Kinder warten und ihre Kleider waschen sah? Nein, ich war nicht heroisch genug, meine Freiheit um den Preis meiner Kaste zu erkaufen.
    »Aber sind Ihre Verwandten denn wirklich so arm? Gehören sie zur arbeitenden Klasse?«
    »Das weiß ich nicht. Tante Reed sagt, wenn ich überhaupt Angehörige habe, so müssen sie Bettlergesindel sein. Nein, nein, ich möchte nicht betteln gehen.«
    »Möchten Sie gerne in die Schule gehen?«
    Wieder dachte ich nach; wusste ich doch kaum, was eine Schule eigentlich war. Bessie sprach zuweilen davon wie von einem Ort, an dem man von jungen Damen erwartete, dass sie außerordentlich manierlich und geziert sind. John Reed hasste seine Schule und schmähte seinen Lehrer, aber John Reeds Ansichten und Geschmack waren keine Maßstäbe für mich. Und wenn Bessies Berichte über die Schuldisziplin – diese stammten von den Töchtern einer Familie, in welcher sie gedient hatte, bevor sie nach Gateshead kam – auch etwas abschreckend klangen, so waren ihre Erzählungen von den verschiedenen Talenten und Kenntnissen, welche die besagten jungen Damen sich in der Schule angeeignet hatten, andererseits höchst verlockend. Bessie schwärmte von wunderschönen Gemälden mit Landschaften und Blumen, welche sie vollendet hatten, von Liedern, die sie singen und Klavierstücken, die sie spielen konnten, von Täschchen, die sie häkelten und von französischen Büchern, die sie übersetzten – so lange, bis mein Gemüt zur Nachahmung aufgestachelt wurde. Zudem bedeutete die Schule eine gründliche Veränderung: Es wäre eine lange Reise damit verknüpft, eine gänzliche Trennung von Gateshead und ein Eintritt in ein neues Leben.
    »Ja, ich möchte in der Tat gerne zur Schule gehen«, war die hörbare Schlussfolgerung dieser meiner Gedanken.
    »Nun ja, wer weiß schon, was nicht alles geschehen kann?«, sagte Mr. Lloyd, indem er sich erhob. »Das Kind braucht Luft- und Ortsveränderung«, fügte er für sich selbst hinzu, »die Nerven sind in einer bösen Verfassung.«
    Jetzt kam Bessie zurück, und im selben Augenblick hörte man auch Mrs. Reeds Wagen über den Kies der Gartenwege rollen.
    »Ist das Ihre Herrin, Bessie?«, fragte Mr. Lloyd. »Ich möchte noch mit ihr reden, bevor ich gehe.«
    Bessie begleitete ihn ins Frühstückszimmer. Wie ich ausden nachfolgenden Begebenheiten schloss, wagte der Apotheker während seiner Unterredung mit Mrs. Reed die Empfehlung, mich doch in eine Schule zu schicken. Und ohne Zweifel wurde dieser Rat sehr bereitwillig angenommen, denn als ich an einem der folgenden Abende im Bett lag und Bessie und Abbot mich schlafend glaubten, sagte Letztere: »Ich glaube, die gnädige Frau ist nur zu froh, solch ein langweiliges, boshaftes Kind loszuwerden; sie sieht immer aus, als beobachte sie jeden Menschen und schmiede heimliche Pläne.« Ich glaube wahrhaftig, dass Abbot mich für einen verschlagenen Attentäter, eine Art kindlichen Guy Fawkes hielt.
    Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich auch aus Miss Abbots Mitteilungen an Bessie, dass mein Vater ein armer Pastor gewesen war, den meine Mutter gegen den Willen ihrer Angehörigen geheiratet hatte, welche diese Heirat für erniedrigend hielten. Mein Großvater Reed war so erzürnt über den Ungehorsam meiner Mutter, dass er sie gänzlich enterbte. Nachdem er kaum ein Jahr mit meiner Mutter verheiratet gewesen war, holte sich mein Vater den Typhus in den armen Vierteln der großen Fabrikstadt, in welcher seine Pfarre lag. Meine arme Mutter folgte dann ihrem Gatten kaum einen Monat später ins Grab.
    Als Bessie diese Erzählung anhörte, seufzte sie und sagte: »Abbot, die arme Miss Jane ist wirklich zu bedauern.«
    »Ja, ja«, entgegnete Abbot.

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