Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
ein übergroßer Besucherstrom auf Gateshead Hall es notwendig machte, alle Räumlichkeiten des Hauses zu nutzen. Und doch war das Zimmer eines der schönsten und prächtigsten Gemächer des Herrenhauses. Wie ein Tabernakel stand ein Bett im Mittelpunkt des Raumes, von massiven Mahagonipfeilern getragen und mit Vorhängen von dunkelrotem Damast behängt. Die beiden großen Fenster, deren Jalousien immer herabgelassen waren, wurden durch Gehänge und Faltendraperien des gleichen Stoffes halb verhüllt. Der Teppich war rot und auch der Tisch am Fußende des Bettes war mit einer tiefroten Decke belegt. Die Wände waren mit einem Stoff behängt, der auf lichtbraunem Grund ein zartes rosa Muster trug; die Garderobe, der Toilettentisch, die Stühle waren aus dunklem, poliertem Mahagoni angefertigt. Aus diesen düsteren Schatten erhoben sich hoch und glänzend die aufgehäuften Matratzen und Kopfkissen des Bettes, über die eine schneeweiße Decke gebreitet war. Ebenso unheimlich stach ein großer, gepolsterter, ebenfalls weißer Lehnstuhl hervor, der am Kopfende des Bettes stand und vor dem sich ein Fußschemel befand; damals erschien er mir wie ein geisterhafter Thron.
Das Zimmer war kalt, weil hier nur selten ein Feuer angezündet wurde; es war still, weil es weit vom Kinderzimmer und der Küche entfernt lag; und es war unheimlich, weil ich wusste, dass fast nie jemand das Zimmer betrat. Nur am Sonnabend kam das Hausmädchen hierher, um den stillen Staub einer Woche von den Möbeln und den Spiegeln zu wischen; und in großen Abständen kam auch Mrs. Reed, um den Inhalt einer gewissen Schublade zu kontrollieren, in welcher sich verschiedene Urkunden, ihre Juwelenschatulle und ein Miniaturbild ihres verstorbenen Gatten befanden.Und hierin bestand auch das Geheimnis des Roten Zimmers, der Zauberbann, weshalb es trotz seiner Pracht so einsam und verlassen war.
Mr. Reed war seit neun Jahren tot. In diesem Zimmer hatte er seinen letzten Atemzug getan, hier lag er aufgebahrt, von hier hatten die Leichenträger ihn hinausgetragen, und seit jenem Tag hatte ein weihevoll-düsteres Gefühl mögliche Besucher von der Schwelle des Raumes ferngehalten.
Der Sitz, auf welchen Bessie und die bitterböse Miss Abbot mich gebannt hatten, war eine niedrige Ottomane, welche nahe dem weißen Marmorkamin stand. Das Bett türmte sich vor mir auf; zu meiner Rechten befand sich ein hoher dunkler Garderobenschrank, auf dessen Täfelung sich matte, düstere Lichter brachen; zu meiner Linken waren die verhängten Fenster. Ein großer Spiegel zwischen ihnen wiederholte die leere Majestät von Bett und Zimmer. Ich war nicht mehr ganz sicher, ob sie die Tür zugeschlossen hatten, und als ich wieder Mut genug hatte, um mich zu bewegen, stand ich auf und sah nach. Aber ach, keine Kerkertür war jemals sicherer verschlossen! Als ich wieder zur Ottomane zurückging, musste ich an dem Spiegel vorüber, und mein gebannter Blick bohrte sich unwillkürlich in die Tiefe desselben ein. In ihm sah alles noch kühler, hohler und düsterer aus als in Wirklichkeit, und die seltsame, kleine Gestalt, die mir aus ihm entgegenblickte, mit weißem Gesicht und Armen, die grell aus der Dunkelheit hervorleuchteten, mit Augen, die vor Furcht hin- und herrollten, wo sonst alles bewegungslos war – diese kleine Gestalt sah aus wie ein wirkliches Gespenst. Ich dachte an eines jener zarten Phantome, halb Elfe, halb Kobold, wie sie in Bessies Dämmerstunden-Geschichten aus einsamen, wilden Schluchten und düsteren Mooren hervorkamen und sich dem Auge des nächtlichen Wanderers zeigten … Ich kehrte auf meinen Sitz zurück.
In diesem Augenblick bemächtigte der Aberglaube sichmeiner, aber die Stunde seines vollständigen Sieges über mich war noch nicht gekommen: Mein Blut war noch warm, die Wut des empörten Sklaven erhitzte mich noch mit ihrer ganzen Bitterkeit. Ich hatte noch einen wilden Strom von Gedanken an die Vergangenheit zu bändigen, bevor ich mich ganz dem Jammer über die trostlose Gegenwart hingeben konnte.
Wie der schmutzige Bodensatz aus einem trüben Brunnen, so stieg aus meinem bewegten, aufgeregten Gemüt alles an die Oberfläche meines Empfindens: John Reeds wilde Tyrannei, die hochmütige Gleichgültigkeit seiner Schwestern, die Abneigung seiner Mutter, die Parteilichkeit der Dienstboten. Weshalb musste ich stets leiden, stets mit verächtlichen Blicken angesehen werden, immer beschuldigt, immer verurteilt werden? Weshalb konnte ich niemals etwas recht
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