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Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)

Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)

Titel: Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Brontë
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machen? Weshalb war es immer nutzlos, wenn ich versuchte, irgendeines Menschen Gunst zu erringen? Man hatte Achtung vor Eliza, die doch so eigensinnig und selbstsüchtig war. Jedermann hatte Nachsicht mit Georgiana, die stets übel gelaunt, trotzig und frech war. Ihre Schönheit, ihre rosigen Wangen und goldigen Locken schienen jeden zu entzücken, der sie anblickte, und ihr Vergebung für all ihre Mängel und Fehler zu erkaufen. John wurde niemals bestraft, niemand widersprach ihm jemals, obgleich er den Tauben die Hälse umdrehte, die jungen Hühner umbrachte, die Hunde auf die Schafe hetzte, den Weinstock im Treibhaus seiner Trauben beraubte und von den seltensten Pflanzen die Knospen abriss. Er nannte seine Mutter sogar »altes Mädchen«, nahm kaum Rücksicht auf ihre Wünsche, ja zerriss und beschmutzte nicht selten ihre seidenen Kleider – und doch war er »ihr einziger Liebling«. Ich wagte niemals, einen Fehler zu begehen; ich bemühte mich stets, meine Pflicht zu tun. Und mich nannte man unartig und unerträglich, mürrisch und hinterlistig, vom Morgen bis zum Mittag, vom Mittag bis zum Abend.
    Mein Kopf schmerzte noch und blutete von dem erhaltenen Schlag und dem Sturz. Niemand hatte John einen Verweis erteilt, dass er mich grundlos geschlagen hatte. Aber als ich mich gegen ihn aufgelehnt hatte, um seiner weiteren besinnungslosen Gewalt zu entgehen, hatten mich alle mit den lautesten Schmähungen überhäuft.
    »Ungerecht! Ungerecht!«, sagte meine Vernunft, welche durch den Schmerz eine frühreife, wenn auch vorübergehende Kraft erlangt hatte; und die Entschlossenheit, welche ebenfalls geweckt war, ließ mich allerhand Mittel ersinnen, um eine Flucht aus dieser unerträglich gewordenen Unterdrückung zu bewerkstelligen. Ich dachte daran, einfach davonzulaufen, oder, wenn dies nicht möglich wäre, niemals wieder Speise und Trank zu mir zu nehmen und mich auf diese Weise zu Tode zu hungern.
    Wie bestürzt war meine Seele an diesem traurigen Nachmittag, wie erregt war mein Gemüt, wie furchtbar empört mein Herz! Aber in welcher Finsternis, welcher Verblendung, welcher unglaublichen Unwissenheit wurde dieser Seelenkampf ausgekämpft! Ich hatte keine Antwort auf die sich mir unaufhörlich aufdrängende Frage,
weshalb
ich so viel leiden musste. Jetzt, aus dem Abstand von – nein, ich will nicht sagen, von wie vielen Jahren –, jetzt sehe ich alles klarer.
    Ich war ein Misston in Gateshead Hall. Ich war ein Nichts an diesem Ort, ich hatte keine Gemeinschaft mit Mrs. Reed oder ihren Kindern oder ihren bezahlten Vasallen. Sie liebten mich nicht, und in der Tat, ich liebte sie ebenso wenig. Es war auch nicht ihre Pflicht, mit Liebe auf ein Geschöpf zu blicken, welches mit keiner ihrer Seelen übereinstimmen konnte; ein andersartiges Geschöpf, welches ihr direktes Gegenteil in Temperament, in Fähigkeiten und Neigungen war; ein nutzloses Geschöpf, welches ihrem Interesse nicht dienen, zu ihrem Vergnügen nichts beitragen konnte; ein giftiges Geschöpf, welches die tiefsteVerachtung für ihre Urteile und die Keime der Empörung über die ihm widerfahrende Behandlung in sich nährte. Ich weiß wohl, dass, wenn ich ein unbekümmertes, geistreiches, schönes und wildes Kind gewesen wäre, Mrs. Reed meine – wenn auch ebenso abhängige und freundlose – Gegenwart leichter ertragen haben würde. Ihre Kinder hätten für mich ein freundlicheres Gefühl der Gemeinsamkeit gehegt; die Dienstboten wären weniger geneigt gewesen, mich zum Sündenbock des Kinderzimmers zu machen.
    Das Tageslicht begann aus dem Roten Zimmer zu schwinden. Es war nach vier Uhr, und auf den bewölkten Nachmittag folgte eine trübe Dämmerung. Ich hörte, wie der Regen unaufhörlich gegen das Fenster der Treppe schlug, wie der Wind in den Laubgängen hinter dem Herrenhaus heulte; nach und nach wurde ich so kalt wie ein Stein, und mein Mut begann zu sinken. Die gewöhnliche Stimmung des Gedemütigtseins, Zweifel an mir selbst und eine hilflose Traurigkeit bemächtigten sich meiner und legten sich auf die Asche meiner erkaltenden Wut. Alle sagten, dass ich boshaft sei – vielleicht stimmte es ja? Hatte ich nicht soeben den Gedanken gehegt, mich zu Tode zu hungern? Das war doch gewiss eine Sünde, denn war ich auf den Tod vorbereitet? War das Gewölbe unter der Kanzel in der Kirche von Gateshead ein so einladendes Ziel? In diesem Gewölbe lag Mr. Reed begraben, wie man mir gesagt hatte. Durch diesen Gedanken an ihn erinnert, versuchte ich,

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