Jeans und große Klappe
Zwischen Steffi und dem vier Jahre älteren Sascha herrscht permanenter Kriegszustand. Spätestens nach drei Minuten blaffen sie sich gegenseitig an, nach fünf Minuten liegen sie sich in den Haaren. Ältere und somit erfahrenere Mütter versicherten mir immer wieder, das sei ganz natürlich und müsse so sein. Beurteilen kann ich das nicht, ich bin ein Einzelkind.
Aufgewachsen in Berlin, er- und verzogen von Eltern, Großeltern, Urgroßmutter und Tante, wurde ich erst mit fünfzehn einigermaßen selbständig, als wir nach Düsseldorf zogen und die Verwandtschaft hinter uns ließen. Meine ersten Brötchen verdiente ich als Redaktionsvolontärin bei einer Tageszeitung und schrieb für die Lokalredaktion Berichte über Verbandstreffen der Kaninchenzüchter und Jahrestagungen des Schützenvereins von 1886. Freitags marschierte ich mit Presseausweis dreimal ins Kino, um den interessierten Lesern meine Meinung über neu ins Programm aufgenommene Filme mitzuteilen. Weil man aber beim besten Willen keine Lobeshymnen singen kann, wenn man ›Heimat, deine Sterne‹ oder ›Der Rächer von Arkansas‹ über sich ergehen lassen muß – die besseren Filme behielten sich natürlich die arrivierteren Kollegen vor, protestierten die Kinobesitzer bald gegen mein Erscheinen. Künftig schrieb ich nur noch über Taubenzüchter und Briefmarkensammler. Ich wollte meine journalistische Laufbahn schon an den Nagel hängen und notfalls Schuhverkäuferin werden, als ein wagemutiger Verleger eine Kinderzeitung gründete und Mitarbeiter suchte. Meine Bewerbung hatte Erfolg, statt über ›Wildwest in Oberbayern‹ schrieb ich jetzt über ›Pünktchen und Anton‹, und bevor die Zeitschrift nach anderthalb Jahren ihr Erscheinen wieder einstellte, heiratete ich noch schnell ihren Chefredakteur.
Böse Zungen haben später behauptet, dieser Herr habe sich mehr seinen Mitarbeiterinnen als seiner beruflichen Tätigkeit gewidmet und deshalb sei der ›Dalla‹ auch eingegangen. Dagegen muß ich mich entschieden verwahren! Nur durch meine aufopferungsvolle Arbeit, die mich oft genug bis in die Abendstunden an die Redaktionsräume gefesselt hatte, ist die Zeitschrift überhaupt alle 14 Tage pünktlich erschienen! Unser Boß wurde erst in den späten Nachmittagsstunden richtig munter und erwartete von seinem Stab dasselbe.
Der Ex-Chefredakteur, nunmehr Ehemann und stellungslos, besann sich auf seine frühere Ausbildung, die mal am Setzkasten angefangen und auf der Kunstakademie geendet hatte, vermischte diese Kenntnisse mit seiner angeborenen Überredungsgabe sowie einem mittlerweile erworbenen Organisationstalent und wurde Werbeberater. Das ist er noch heute.
Seine angetraute Gattin, die er von ihren acht Stunden Büroarbeit erlöst hatte, damit sie vierzehn Stunden im Haushalt arbeiten konnte, beschäftigte sich anderthalb Jahrzehnte ausschließlich mit Brutpflege und Haushaltsführung, wenn man von dem unbezahlten Nebenjob als Sekretärin, Buchhalterin, Telefonistin und Steuerberaterin einmal absieht. Ihre literarischen Ambitionen tobte sie in langen Briefen an die Verwandtschaft aus, später auch in den Hausaufsätzen ihrer schulpflichtigen Kinder. Ob die Lehrer davon begeistert waren, entzieht sich meiner Kenntnis – vermutlich wußten sie es nicht –, die Verwandtschaft jedenfalls war es. Entfernte Tanten, die ich bestenfalls zu Weihnachten mit einer vorgedruckten Karte und herzlichen Festtagsgrüßen beglückte, spielten in ihren Dankschreiben auf irgendwelche familiären Ereignisse an, von denen sie eigentlich gar keine Ahnung haben konnten. Schließlich erfuhr ich von meiner Großmutter, daß sie die für sie bestimmten Briefe zu Rundschreiben umfunktionierte und allen möglichen Leuten schickte. Sogar ihren Kränzchenschwestern las sie längere Passagen daraus vor.
Mißtrauisch geworden forschte ich weiter. Der väterliche Großvater pflegte meine Briefe mit sich herumzutragen und sie seinen Skatbrüdern vorzulesen, wobei ich um der Wahrheit willen zugeben muß, daß er Familieninterna aussparte und sich nur auf Schilderungen beschränkte, die seine Urenkel betrafen. Meine Freundin brachte Saschas Schandtaten bei gelegentlichen Klassentreffen zu Gehör, und meine Lieblingstante übersetzte einzelne Briefstellen ins Englische, um sie in verständlicher Form weitergeben zu können. Sie lebt in Los Angeles.
Meine erste Reaktion war Empörung. Wie kann man persönliche Briefe … wenn auch nur auszugsweise … und wen interessierte es
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