Baphomets Bibel
Denise Blanc schürzte die Lippen. So kannte sie ihren Bruder nicht. Erst nach der Pensionierung hatte er sich verändert. Er war wirklich anders geworden. In sich gekehrter und trotzdem aggressiver. Er hatte nie geheiratet, er war nie Vater gewesen, er hatte stets mit seiner Schwester zusammengelebt, die nur zwei Jahre verheiratet gewesen war, als sie Witwe wurde. Danach war sie nie wieder in den Stand der Ehe getreten. In der Wohnung lebten die beiden schon seit langen Jahren zusammen, und Denis hatte stets für ihren Bruder gesorgt, damit er seinem Job als Küster nachgehen konnte. Er war auch immer sehr normal gewesen, doch jetzt lagen die Dinge anders.
Denise begriff die Veränderung nicht richtig. Sie konnte darüber nur den Kopf schütteln, und sie hätte auch niemals damit gerechnet.
»Was willst du eigentlich, Ives?«
»Leben!«
»Bitte?« Sie wusste nicht, ob sie lächeln oder ernst bleiben sollte. »Du lebst doch.«
»Das stimmt.« Ives räusperte sich. »Wie ich dir schon gesagt habe, ist bei mir Schluss. Ich will, dass es mir in den letzten Jahren besser geht. Mein Gehalt war immer beschissen klein. Andere sahnten ab. Andere waren die Herren mit den großen Füßen, und ich war nur der Wurm, den sie treten konnten.«
»Anderen geht es noch schlechter.«
»Das weiß ich. Aber ich will mich nicht mit den anderen auf eine Stufe stellen.«
»Ach. Und was willst du jetzt tun?«
»Das kann ich dir noch nicht sagen, aber ich werde etwas tun, das steht fest.«
»Du kannst das nicht tun, Ives!« Denise Blanc sprach mit sehr ernster Stimme. »Du kannst dich nicht gegen die Mächtigen stellen. Das ist nicht möglich. Sie sind zu stark. Das musst du verstehen. Die machen dich doch fertig. Gewisse Dinge müssen geheim bleiben und sind nicht für die Augen der Welt bestimmt. Lass sie ruhen.«
»Nein!«
»Man wird dich mundtot machen!«, flüsterte Denise über den Tisch hinweg.
»Meinst du, dass man mich tötet?«
»Ja, so ähnlich.«
Ives hob die Augenbrauen und lächelte. Sein Blick schien sich zu verlieren. »Es kann sein, dass man mich tötet. Was ich weiß, ist zu brisant.«
»Und ich weiß es auch!«, unterbrach sie ihn.
Ives schrak leicht zusammen. »Wobei du hoffentlich den Mund halten wirst, Denise.«
Sie hob die Schultern. »Bis jetzt habe ich ihn ja gehalten. Das weißt du genau.«
»Eben. Ich will, dass es so bleibt. Es soll keine Veränderung geben. Ich habe dich eingeweiht, weil der Druck über dieses Wissen für mich einfach zu groß war. Du hast mir versprochen, dass du dich daran hältst, nichts zu sagen.«
»Bisher habe ich auch nichts gesagt.«
»Behalte es bei!«
Denise Blanc schwieg. Sie blickte ihren Bruder lange an. Sie dachte daran, dass sie gemeinsam älter geworden waren. Das Berufsleben lag hinter ihnen. Von einer Zufriedenheit konnte man zumindest bei Ives nicht sprechen. Bei ihm war das Gegenteil eingetreten. Er war hasserfüllt geworden. Er hatte sich oft tagelang in seinem Zimmer verkrochen. Er hatte telefoniert und irgendwelche Verbindungen spielen lassen. Jetzt wollte er sich mit einem Menschen treffen, dessen Namen Denise nicht mal kannte. Auch als sie ihren Bruder danach gefragt hatte, da hatte sie keine Antwort bekommen.
»Du willst es also wirklich tun?«, fragte sie, als er Anstalten machte, sich zu erheben.
»Ich muss es machen!«
»Heute?«
Ives stand auf. »Ja, heute. Und ich denke, dass sich unser Leben verändern wird.«
Denise hatte die Tränen lange zurückgehalten. Jetzt war es mit ihrer Beherrschung vorbei. Sie musste einfach weinen und senkte dabei den Kopf.
Ihr Bruder stand vor dem Tisch und schaute auf sie nieder. In seinem Gesicht bewegte sich nichts. Die Lippen hielt er zusammengepresst. Er wusste ja, wie es in seiner Schwester aussah, doch er konnte sich keinen Rückzieher erlauben. Er hatte es sich vorgenommen und auch bestimmte Dinge in Bewegung gesetzt.
Noch verließ er die Wohnküche in dem windschiefen, alten Haus nicht. Er ging zum Fenster und schaute in den trüben Tag hinaus. Die Wolken lagen tief. Sie bildeten Schatten, doch der Schatten, den Ives meinte, stammte nicht von ihnen. Er war eigentlich unsichtbar. Für ihn aber zu spüren.
Es war der Schatten der mächtigen Kathedrale von Chartres, in deren Nähe er und seine Schwester lebten. Und dieser mächtigen Kirche war er zudem stets zu Diensten gewesen. Das heißt, nicht direkt ihr, sondern den Leuten, die das Sagen hatten und dabei eine mächtige Hierarchie bildeten. Er war
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