Jede Nacht mit Charlie
musterte sie Charlie. Nicht übel. Er besaß Potenzial. Er war intelligent, wortgewandt, unterhaltsam, sogar gelegentlich komisch. Viel versprechendes Starmaterial. Sie musste seine Sendung nur ganz auf seine Persönlichkeit zuschneiden und für Publicity sorgen. Bis Weihnachten konnte sein Name in aller Munde sein.
Drei Monate, und sie war wieder an der Spitze.
Sie wartete, bis das Dinner auf dem Tisch stand. „Du kannst wirklich gut mit Worten umgehen“, begann sie ihren Feldzug. „Das gefällt mir an einem Mann. Besonders an einem Mann, dessen Sendung ich produziere.“
Charlies Gabel blieb mitten in der Luft hängen. „Was soll das heißen?“
Allie lächelte, ganz die Erfolgsproduzentin. „Ich mache dich zum Star, Charlie Tenniel.“
„Den Teufel tust du!“
Wo blieben die Begeisterungsstürme? Wo der Blick auf die Karrierechancen? Also wollte er überzeugt werden. Kein Problem. „Sieh mal, Charlie, ich weiß, deine Sendung besaß Kultstatus in Lawrenceville und du gehst die Dinge gerne auf deine eigene Art an, aber hier startest du bei Null, noch dazu mit einer schlechten Sendezeit. Das Radio ist ein schnelllebiges Medium. Ich kann …“
„Nein, kannst du nicht! Bill hätte es dir sagen müssen. Ich bin nur vertretungsweise hier. Maximal fünf, sechs Wochen. Stichtag ist der erste November. Außerdem ist da dieser Typ, dessen Sendung ich übernehme. Waldo, richtig?“ Allie nickte. „Was, wenn er zurückkommt?“
Seine beiden Gegenüber wirkten perplex. „Waldo kommt nicht zurück. Er lebt jetzt in San Diego bei seiner Schwester.“
„Besuche enden irgendwann.“ Charlies Blick wanderte vom einen zum anderen. „Er kommt nicht zurück?“
„In seiner letzten Sendung hat der gute Waldo das Mischpult zusammengeschossen. Angeblich in Notwehr. Es habe zu ihm gesprochen.“
„Vielleicht braucht er einfach nur einen langen Urlaub.“
„Vielleicht sollte er sich grundsätzlich von Stereoausrüstungen fern halten.“ Allie holte zu ihrem Überzeugungsschlag aus. „Das bedeutet …“
„Das bedeutet, dass du in ungefähr sechs Wochen einen anderen Typen groß rausbringst.“ Damit war für Charlie der Fall erledigt, und er unterhielt sich mit Joe über Tuttle.
Da er sich vernünftigen Argumenten unzugänglich zeigte, musste sie sich eben eine andere Strategie einfallen lassen. Sie war schließlich ein fantasiebegabtes Wesen. Das Problem war nicht Charlies Gleichgültigkeit. Sie hatte Mark ohne jede erwähnenswerte Unterstützung seinerseits zum Star gemacht. Das Problem war der Zeitfaktor.
Marks Erfolg hatte sie zwei Jahre gekostet. Mithilfe unermüdlicher Umfragen, gründlicher Recherchen, abwechslungsreicher Themenvorschläge und perfekter Organisation hatte sie alles Menschenmögliche getan, um seine Stärken in den Vordergrund zu stellen. Erfolg kam nicht von heute auf morgen. Es sei denn, sie steuerte das Ziel wesentlich schneller an als beabsichtigt.
Und was den privaten Aspekt ihrer Beziehung anging, so erkannte sie auch hier ein gewisses Potenzial. Eine kurze Affäre. Ein paar denkwürdige Stunden. Ein schmerzloser Abschied. Eigentlich waren flüchtige Abenteuer nicht ihr Stil, aber ihre Sturm- und Drangzeit würde ja nicht ewig dauern. Irgendwann wollte sie heiraten und Kinder in die Welt setzen. Also jetzt oder nie.
Allie betrachtete die Situation von allen Seiten. Es gab keine ernsthaften Hindernisse – abgesehen von Charlie selbst.
„Ich verführe ihn!“ Laut ausgesprochen klang es lächerlich.
„Was?“
„Ich habe einen Plan. Eine Art Exorzismus.“ Auch wenn Joe anscheinend eine Einweisung in die Psychiatrie in Erwägung zog, erwärmte Allie sich zunehmend für ihr Vorhaben. „Ich schlafe mit Charlie, und schon bin ich über Mark hinweg. Ab morgen konzentriere ich mich ganz allein auf meine Karriere.“
„Selbst für deine Verhältnisse ist das eine dämliche Idee.“ Joe sah Charlie nach, der in der Halle telefonisch seine Hotelreservierung stornierte. „Du hast dich schon immer viel zu sehr auf deine Karriere konzentriert. So bist du überhaupt Mark verfallen. Außerdem bist du weder der Typ für bedeutungslose Bettgeschichten, noch ist Charlie ein Mann, den man anschließend einfach vergisst.“
„Ich bin sechsunddreißig! Wann, bitte schön, soll ich denn mein Liebesleben von Grund auf umkrempeln, wenn nicht jetzt? Versteh doch, Joe, ich bin es einfach leid, mich ganz auf einen Mann einzulassen, um dann doch nur vor einem Trümmerhaufen zu stehen. Charlie
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