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Jeden Tag, Jede Stunde

Jeden Tag, Jede Stunde

Titel: Jeden Tag, Jede Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natasa Dragnic
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aufpassen müssen …«
    Und dann passiert es tatsächlich. Luka schreit, und fast gleichzeitig schreit auch Dora, denn sie kann Luka nicht mehr sehen, sie eilt und bricht sich fast das Genick, und dann sieht sie ihn. Luka steht auf dem Plateau und zählt, das weiß sie ganz genau, auch wenn er ihr den Rücken zugedreht hat, und sie ist wütend, sie ist so was von wütend, sie hat es so satt, immer auf ihn aufpassen zu müssen, dass sie sich auf ihn stürzt und blind auf ihn einschlägt.
    »Du sollst aufhören, sofort, du sollst einfach aufhören, ich …«
    Und dann sieht sie es auch. Und sie schreit. Sie wendet den Kopf zur Seite, vergräbt ihn in Lukas Schulter, die zu mager ist, die Knochen bohren sich in ihr Gesicht hinein, und es tut ihr weh, aber sie freut sich über den Schmerz, er ist eine willkommene Ablenkung. Alles ist besser, als daran zu denken, was sie soeben gesehen hat. Sie wird sich übergeben müssen. Das spürt sie ganz genau.
     
    »Was machen wir jetzt?«
    Dora versucht den Kalbsbraten, die Salzkartoffeln und den Mangold, die Tomaten, Gurken und Salatblätter, das Schokoladeneis und die Mozartkugel, die entschlossen sind, ihren Magen zu verlassen, bei sich zu behalten. Sie traut sich nicht, den Mund aufzumachen.
    »Dora, was machen wir jetzt?«
    Luka sieht sie verwundert an, seine Augen sind erschreckend groß. Aber er atmet noch. Also kann Dora den Blick von ihm abwenden. Sie zwingt sich, die toten Möwen anzusehen. Vorerst nur mit einem Auge. Das ist ihr Plan. Wenn sich das eine Auge daran gewöhnt, dann kann sie es mit beiden versuchen. Das wird kein einfaches Unterfangen! Sie zwinkert abwechselnd mit dem linken, dann mit dem rechten Auge. Das kann sie, sie hat es geübt. Eine gute Schauspielerin muss das können.
    »Was machst du da?«
    »Ich überlege«, lügt Dora, aber nur ein wenig, denn sie versucht zu überlegen, wirklich, auch wenn es nicht klappt.
    »Ob die jemand erschossen hat? Das ist doch verboten! Und warum ausgerechnet auf unserem Felsen?! Das hätten sie nicht tun dürfen, das ist unser Felsen, die hatten kein Recht …«
    »Halt den Mund! Ich kann nicht denken!«
    Dora sieht ihn wütend an.
    »Was immer passiert ist und wer immer es getan hat, jetzt müssen wir uns um sie kümmern, jetzt gehören sie uns, sie liegen vor unserer Tür.«
    Luka grübelt.
    »Du meinst, wie die Kinder, die man vor der Kirche in einem Korb liegen lässt, damit andere Leute sich um sie kümmern?«
    »Ja, genau das meine ich.«
    Dora ist stolz auf Luka.
    »Und was machen wir mit ihnen?«
    »Wir begraben sie, das ist klar. Oben im Wald.«
    »Glaubst du, jemand hat sie erschossen?«
    »Nein. Ich glaube, sie haben gekämpft.«
    »Gekämpft? Um was?«
    »Um ein Weibchen, was sonst! Und dabei sind alle beide ums Leben gekommen.«
    »Das finde ich blöd.«
    Luka glaubt es nicht.
    »Das ist romantisch.« Doras Stimme ist verträumt. »Jemanden so lieb haben, dass man für ihn alles tun würde …« Sie lächelt, als wäre sie irgendwo anders. Als wüsste sie ein Geheimnis, das Luka verborgen bleiben könnte, wenn er sich nicht anstrengt. Das mag Luka nicht.
    »Unsinn«, sagt er und nähert sich den toten Möwen. Er zieht sein T-Shirt aus und wickelt sie darin ein. Seine Hände zittern. Er will aber unbedingt zeigen, dass er keine Angst hat. »So, lass uns gehen.«
     
    Es ist der letzte Augusttag 1968.

3
    Es gibt Gespräche zwischen Kindern und Erwachsenen, bei denen Kinder jedes einzelne Wort verstehen. Sie nicken unbeirrt mit dem kleinen Kopf voller Locken. Sie geben keinen Laut von sich, aber sie lächeln verständnisvoll. Die Eltern sprechen erfreut weiter, sie wählen ihre Worte sorgfältig, seit Tagen haben sie sich schon Gedanken darüber gemacht, was und wie sie es sagen und erklären sollen. Stundenlang kann das so weitergehen. Bis Stille und Wortlosigkeit eintreten. Ein Schweigen, das nichts Schlimmes erahnen lässt, wie in einem Film, in dem die verräterische Musik fehlt. Wie ahnungslose Zuschauer wiegen sich die armen Eltern in der täuschenden Sicherheit, dass sie alles unter Kontrolle haben. Wie wenn man während eines Sturms zu Hause im Trockenen sitzt und aus dem Fenster das Toben und Rasen des Windes und des Meeres und des Regens beobachtet, mit einem Glas Wein in der Hand oder einem Becher Kakao oder einer Tasse Tee. Wo einen nicht einmal das Erzittern des Hauses beunruhigen kann. Wo die Welt da draußen mit der Welt drinnen nichts zu tun hat. Man beglückwünscht sich zu der weisen

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