Jeden Tag, Jede Stunde
jung. Ja, natürlich kann man sie kaufen. Dieses Gefühl. Ja, ich empfinde genauso. Es zieht einen magisch an. Eine Geschichte. Ja, ich kann sie auch sehen. So tiefsinnig. Ja, wir sind sehr stolz auf ihn. Ich habe schon immer gesagt …«
Luka ist erst fünfzehn Jahre alt, und die Leute wollen ihn schon in ihrem Wohnzimmer hängen haben. Auch wenn die Wohnzimmer sich nur in Makarska befinden. Er muss dagegen ankämpfen, seine Augen zu schließen. Zu atmen aufzuhören. Und schon fängt alles an, sich zu drehen, eins, zwei, drei, vier, fünf…
Ana ist an seiner Seite und sucht nach seiner Hand. Sie sagt nichts. Sie ist zehn Jahre alt. Sie wächst aber, allein indem sie neben ihm steht. Als wollte sie sagen: »Mein Bruder.« Oder aber: »Reiß dich zusammen, mach die Augen auf, man muss es nicht übertreiben.« Ana kümmert sich um ihn.
Und diese warme Hand ist so mit Erinnerungen beladen, dass Luka tatsächlich die Augen öffnen und weiteratmen muss, und obwohl seine Augen voller Tränen sind und brennen, schließt er sie nicht erneut, ganz bewusst, es ist seine Entscheidung, die erste seit langer Zeit, seit einer Ewigkeit, so kommt es ihm vor. Er drückt Anas Hand ganz fest, ohne sie etwas zu fragen. »Gern geschehen«, sagt sie leise, ohne ihn anzusehen. Und Luka hat das Gefühl, dass sie der einzige Mensch auf seinem Planeten ist. Der einzige, der seine Sprache schweigt.
Mit zwölf hat Dora schon die Hälfte ihres bisherigen Lebens in diesem fremden Land verbracht. Das gar nicht mehr so fremd ist. Dora spricht die Sprache, die auch gar nicht mehr so fremd ist, wie ihre Muttersprache, vielleicht noch besser. Sie kann alles sagen, der Rhythmus passt, die Melodie stimmt, der Ton auch. Vor allem aber der Gesichtsausdruck. Der gehört hundertprozentig dazu. Naturellement . Sie ist eine von denen geworden. Ah oui, bien sûr . Sie erzählt in dieser neuen Sprache von sich selbst; von ihrer Familie; von ihrem Vater, Ivan, und seinem Beruf, der sie hierhergeführt hat, mon papa est un architecte; von Helena, ihrer Mutter, die begeistert mitgegangen ist, die sich auf die große Stadt gefreut hat, die schönste Stadt der Welt, Paris, die aufregendste, die interessanteste, die ereignisvollste, in der sie jedem erzählen kann, sie komme aus Kroatien, nein, nicht aus Jugoslawien; von ihren Großeltern, die auch in einer Großstadt wohnen, aber in einem anderen Land, ihrem Heimatland, in einer Stadt, die nicht so groß und nicht so schön ist; von der neuen Wohnung im Zentrum, an einem Park liegend, Parc Monceau, mit einem nur zu erahnenden und dennoch wunderbaren Blick auf den Fluss, von ihrem Zimmer aus, das viel größer ist als ihr altes, mit vielen neuen Möbeln; von den neuen Nachbarn, die ganz nett und freundlich sind und die eine Tochter haben, die genauso alt ist wie sie und mit der sie sich sehr gut versteht, ja, sie könnte sogar sagen, dass sie ihre beste Freundin ist, denn mit Jeanne, so heißt sie, kann man prima spielen, man kann ihr absolut vertrauen. Geheimnisse sind bei ihr so sicher wie die schönen Gebäude, die Papa sich ausdenkt und die sie dann besichtigen kann, um sich wichtig zu machen, weil sie ihres Vaters Tochter ist! Diese Gebäude sind so sicher wie Papas Geld – Papas Zeichnungen sind sehr gefragt und sehr teuer – auf der Bank, vielleicht sogar sicherer, Banken werden oft von Einbrechern überfallen, davon lesen Jeanne und Dora in der Zeitung. Aber sie fühlen sich absolut sicher, denn Jeanne hat einen kleinen Hund, Papou, der sie überallhin begleitet und sie beschützt. Zu dritt haben sie den Park erobert, die kurvigen Wege und die wie zufällig platzierten Statuen, die kleinen ägyptischen Pyramiden und korinthischen Säulen, zwischen denen sie Fangen und Verstecken spielen, und manchmal setzen sie sich einfach unter die Statue von Maupassant oder Chopin und reden, flüstern, während Papou auf ihren Füßen liegt und schläft oder so tut als ob, denn das linke Auge hält er immer offen. Als würde er doch ihren Worten lauschen. Denn über ihre Lieblingsfilme und Lieblingsbücher und Lieblingsmusik kann Dora auch in der neuen Sprache, die sie übrigens sehr lieb gewonnen hat, sehr überschwänglich berichten, denn sie ist das gleiche offene, neugierige, unaufhaltsame Mädchen geblieben, das sie schon immer war. Und im Rosengarten des Parks hat Dora ihrer Freundin schon Verse und ganz lange Gedichte vorgetragen, und manchmal haben die spanischen concierges, die sich dort eine wohl oder
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