Jene Nacht im Fruehling
glatter Oberfläche von ungelenker Kinderhand in blauer Farbe die Worte geschrieben standen: Ich liebe Dich, Daddy. Sie hatte ihm diesen Briefbeschwerer geschenkt, als sie die dritte Volksschulklasse besuchte.
Zwei Wochen, bevor ihr Vater starb - in einer Zeit, wo sie ihn pflegte und glaubte, sie wären sich so nahegekommen wie nie zuvor in ihrem Leben -, hatte er heimlich das Haus und die meisten der darin befindlichen Einrichtungsgegenstände verkauft. Sie hatte in diesen Wochen vor seinem Tod kaum an sich selbst gedacht, aber er hatte sie immer wieder danach gefragt, was sie denn nach seinem Ableben unternehmen wolle. Widerstrebend hatte ihm Samantha zur Antwort gegeben, daß sie vermutlich in diesem Haus wohnen, ein paar College-Kurse belegen, nebenbei ein paar Unterrichtsstunden auf dem Gebiet der Datenverarbeitung geben und alles das tun würde, was auch andere Leute machten, die nicht sechs Tage in der Woche arbeiteten, wie Samantha das in den letzten beiden Jahren getan hatte. Ihr Vater hatte sich mit keinem Wort dazu geäußert, obwohl es ihm offenbar nicht recht gefallen wollte.
Samantha legte den Stein auf den Schreibtisch zurück und sah den Anwalt an. »Hat er denn keinen Grund für den Verkauf des Hauses genannt?«
»Er sagte lediglich, es wäre sein Wunsch, daß du ein Jahr lang in New York verbringen und in dieser Zeit nach deiner Großmutter suchen solltest. Ich hatte nicht den Eindruck, daß er glaubte, sie wäre noch am Leben. Ich denke, ' er wollte, daß du herauszufinden versuchst, wo sie hinging, nachdem sie ihre Familie verlassen hatte. Dein Vater hatte die Absicht, selbst Nachforschungen anzustellen, aber er...«
»Er hatte für viele Dinge, die er machen wollte, nicht die Zeit gefunden«, unterbrach Samantha den Anwalt, der die Stirn runzelte, denn ihre Stimme hatte verbittert geklungen. »Demnach soll also ich an seiner Stelle nach ihr suchen?«
Der Anwalt räusperte sich nervös und überlegte, wie er sich am schnellsten höflich verabschieden konnte. »Ich glaube nicht, daß er Nachforschungen im buchstäblichen Sinn meinte. Ich hatte eher den Eindruck, daß er befürchtete, du würdest dich in diesem Haus verkriechen und niemanden sehen wollen. Ich meine, er dachte daran, daß du, weil von der Verwandtschaft deiner Mutter niemand mehr existiert, nach seinem Tod keine Familienangehörigen mehr hast - außer seiner Mutter. Falls sie noch lebt, heißt das natürlich .. .« Seine Stimme verebbte.
Samantha wandte sich ab, so daß der Anwalt ihr Gesicht nicht sehen konnte: Sie wollte von dem, was sie in diesem Moment empfand, nichts preisgeben. Schmerz, Verrat - wie tief sie verwundet worden war, mochte sie niemandem zeigen. Ihr größter Wunsch in diesem Moment war, allein zu sein. Sie wollte, daß dieser Mann jetzt aus dem Haus ging, die Tür hinter sich zumachte und sie nie mehr öffnete. Sobald das Haus leer war, wollte sie sich in eine warme, dunkle Ecke verkriechen, die Augen schließen und sie nie mehr öffnen. Wie viele schreckliche Dinge konnte ein Mensch durchmachen und dennoch überleben?
Der Anwalt zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und legte ihn auf den Schreibtisch. »Das sind die Schlüssel zu der Wohnung deines Vaters. Dave hatte alles schon arrangiert. Er hatte vor, sich frühzeitig pensionieren zu lassen und nach New York zu ziehen, damit er nach seiner Mutter suchen konnte. Er mietete sich in New York eine Wohnung und richtete sie sogar ein. Alles war für ihn bereit, aber dann beschloß er, sich einer Vorsorgeuntersuchung zu unterziehen, und . . . und da entdeckte man seinen Krebs.«
Als Samantha sich nicht umdrehte, ging der Anwalt rückwärts bis an die Tür zurück. »Samantha, ich kann nur nochmals versichern, daß mir das mit deinem Vater leid tut. Ich liebte diesen Mann, und ich weiß, daß du ihn auch geliebt hast. Und wenn es dir vielleicht im Augenblick auch anders scheinen mag: Er liebte dich ebenfalls. Er liebte dich sehr und wollte nur das Beste für dich. Und deshalb bin ich sicher, daß er das, was er machte, nur aus Liebe zu dir tat.«
Er redete zu schnell und wußte das auch. Vielleicht sollte er ihr etwas anbieten. Und wenn es nur eine Schulter war, an der sie sich ausweinen konnte - aber wenn er ehrlich war, wollte er nicht Zeuge eines solchen Schmerzes werden, wie Samantha ihn empfinden mußte. Er empfand Mitleid - so viele Todesfälle in so einem kurzen Leben -, aber er bot ihr keine Schulter an. Er wollte jetzt heimgehen, heim zu seiner
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