Jene Nacht im Fruehling
aufbrechen konnten, rankte sich an der linken Seite des Hauses bis zum Dach hinauf.
Samantha drückte auf den Klingelknopf. Niemand kam an die Haustür. Auch nicht, als sie bereits dreimal geklingelt und eine Viertelstunde gewartet hatte.
»Natürlich«, sagte sie laut zu sich selbst und setzte sich dann auf ihren Koffer. Hatte sie etwa erwartet, daß der Hausbesitzer daheim sein würde, um ihr den Schlüssel zu übergeben? Nur weil sie ihm in einem Brief ihre Ankunftszeit in New York mitgeteilt hatte, bedeutete das noch lange nicht, daß er sich auch verpflichtet fühlte, daheim zu bleiben, um ihr die Haustür öffnen zu können. Was kümmerte es ihn schon, daß es sie nach einem Duschbad verlangte und nach einer Sitzgelegenheit, die sich nicht von der Stelle bewegte?
Als sie so auf ihrem Koffer saß und auf den Mann wartete, der ihr die Schlüssel übergeben sollte - wobei sie sich fragen mußte, ob er überhaupt kommen würde überlegte sie, was sie in einer so großen Stadt wie New York ohne eine Bleibe anfangen sollte. Sollte sie sich ein Taxi zu einem Hotel nehmen und dort die Nacht verbringen? Sollte sie den Anwalt ihres Vaters veranlassen, ihr telegrafisch noch etwas Geld anzuweisen, bis sie Gelegenheit fand, in New York ein Bankkonto zu eröffnen?
So verstrichen wieder einige Minuten, ohne daß jemand kam, um ihr die Haustür zu öffnen, oder sie von den Passanten jemand beachtete. Zwar lächelten zwei vorbeikommende Männer zu ihr hinauf, aber sie blickte betont in eine andere Richtung.
Während Samantha auf der Vortreppe saß, entdeckte sie nach einer Weile, daß sich da noch eine Tür an der Vorderseite, und zwar auf der Höhe des Bürgersteiges, befand. Vielleicht war ja das der richtige Eingang und sie mußte nur dort anklopfen, damit ihr geöffnet wurde.
Sie wußte nicht, ob es gefährlich war, ihr Gepäck unbewacht auf der Vortreppe stehenzulassen, beschloß jedoch, dieses Wagnis einzugehen. Zu Gott betend, daß man es ihr nicht stehlen möge, ging sie die Vortreppe hinunter um einen hübschen, mit Spitzen versehenen schmiedeeisernen Zaun herum, um mehrmals an die Tür zu klopfen. Doch nichts regte sich im Haus.
Sie holte tief Luft und blickte, die Hände zu Fäusten ballend, zurück auf ihr Gepäck, das unberührt oben auf der Treppe stand. Sie sah sich um und entdeckte neben der Tür im Erdgeschoß einen Kasten mit roten Geranien. Der Anblick der Blumen brachte sie zum Lächeln. Zumindest diese Blumen schienen glücklich zu sein. Sie waren gepflegt, wiesen nicht ein welkes Blatt auf, und die Erde darunter war feucht, aber nicht naß, und die Stämmchen waren voller Blüten.
Immer noch lächelnd machte sie sich auf den Rückweg zur Vortreppe. Als sie um den Zaun herumging, flog ein Fußball so knapp an ihrem Kopf vorbei, daß sie ihn unwillkürlich einzog. Und als dieser Fußball von einem männlichen Wesen verfolgt wurde, das offenbar ein paar hundert Pfund wog und mit kurzen Baumwollshorts und einem Sweatshirt bekleidet war, dessen Armlöcher bis zur Taille hinunter aufgerissen zu sein schienen, preßte sich Samantha flach gegen die Seitenwand der Vortreppe und versuchte, diesem Mann auszuweichen. Aber sie war nicht schnell genug. Er fing den Fußball in dem Bruchteil einer Sekunde, als er über ihren Kopf hinwegsegelte, und nahm sie erst erschrocken in dem Moment wahr, als er im Begriff war, auf sie zu fallen. Sofort ließ er den Fußball los und griff mit beiden Händen nach ihr, ehe sie mit ihrem ganzen Gewicht auf die Spitzen des Zaunes fallen konnte.
Sie schnappte erschrocken nach Luft, als sie das Gleichgewicht verlor, aber dann spürte sie, wie er sie an sich zog, um sie zu schützen.
Einen Moment lang stand sie, von seinen Armen umfangen, da. Er war um einiges größer als sie mit ihren einszweiundsechzig, mochte vielleicht einsachtzig sein, aber da er sich, um ihren Sturz zu verhindern, nach vom beugte, befanden sich ihre Köpfe fast auf gleicher Höhe. Die Vortreppe hinter sich, die gemauerte Freitreppe des Nachbarhauses nur wenige Meter entfernt vor sich, den Zaun und den Blumenkasten unmittelbar neben sich, waren sie hier so gut wie von der Außenwelt abgeschnitten. Samantha wollte sich gerade bei dem Mann für seine Hilfe bedanken, doch als sie ihn ansah, vergaß sie, was sie hatte sagen wollen.
Er war ein ungewöhnlich gutaussehender Mann mit schwarzem gelocktem Haar, dichten schwarzen Brauen, dunklen Augen mit Wimpern, auf die jede Frau neidisch gewesen wäre - und dies
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