Jenseits der Alpen - Kriminalroman
Pkw auszuweichen, der knapp vor ihnen eingeschert war. Mit einem lauten, langen Hupton setzte Thorsten noch eins drauf.
Amelie konnte nicht verhindern, dass Giorgio hart gegen die vordere Bordwand prallte und laut zu kläffen anfing. Sie warf Thorsten einen intensiven Blick zu. Er war blond, kräftig gebaut und mochte um die vierzig sein. Er hatte volle Wangen und eine hohe Stirn, schmale Lippen und eine schmale Nase, deren Spitze zaghaft nach oben zeigte, und im Gegensatz dazu ein energisches Kinn. Die Falte zwischen den Augenbrauen hatte sich geglättet.
Harmlos, redete sie sich ein.
Trotzdem war da eine Spannung zwischen ihnen, die sie sich nicht erklären konnte. Sie spürte ihr Unbehagen wachsen. Wenn sie abgebogen waren und Richtung Bruneck fuhren, wollte sie entscheiden, ob sie Giorgio und ihren Rucksack packen und aussteigen würde. Doch dann hockte sie in Bruneck. Gut, sie könnte Dad anrufen. Er würde sie bestimmt abholen, egal von wie weit her. Sofort jedoch hörte sie im Geiste sein gescheites »Siehst du? Ich hab’s doch gleich gesagt«.
»Mein Vater ist der Polizeipräsident von Innsbruck«, hörte sie sich sagen. Sie hatte sich die Lüge nicht lange überlegt, sie platzte einfach damit heraus, ohne zu wissen oder zu ahnen, welche Richtung die Konversation damit einschlagen würde.
Er nahm den Blick von der Straße und sah sie flüchtig an. Sie hatte den Eindruck, dass sich seine Miene für einen kurzen Augenblick verfinsterte. Doch dann formte sich ein amüsiertes Lächeln in den Mundwinkeln.
»Aha, hast du dich also doch durchgerungen, deine Familiengeschichte zu erzählen. Du bist also Österreicherin, nicht? Das habe ich gleich herausgehört.«
»Tirolerin«, warf sie ein. Sie wollte nicht mit Wienern in einen Topf geworfen werden.
»Und dein Vater ist der Chef der Polizei. Interessant. Kannst nachher weitererzählen. Wir müssen gleich abbiegen. Und dann kommen dreißig Kilometer Landstraße. Da muss ich mich konzentrieren. Und vorher noch kurz durchfunken.«
Er griff nach rechts zwischen die Sitze und schaltete die Musik aus. Er hob den Arm und deutete nach vorn. »Bressanone. Da vorn. Ausfahrt Brixen. Da müssen wir raus.«
Das klang alles sehr normal. Wieso regte sie sich auf?
Giorgio zu ihren Füßen hatte sich zusammengerollt und schlief. Tiere wittern Gefahr, sagt man. Wenn Giorgio recht hat, sind wir nicht in Gefahr. Warum ist eigentlich dieses Gefühl über mich gekommen? Ich sitze in einem deutschen Lkw mit einem absolut vertrauenswürdig wirkenden Fahrer, der mich samt Hund mitgenommen hat und freundlich ist. Der in diesem Moment die Autobahn verlässt, um ein paar Kilometer weiter einen Auftrag zu erfüllen. Der danach wieder ebenso sicher nach Brixen zurückfahren und mich und Giorgio eine gute Stunde später in Innsbruck abladen wird. Von dort komme ich irgendwie nach Hause. Es ist ja nicht das erste Mal, ich bin jedes Mal ohne Probleme heimgekommen.
Amelie Bartz atmete tief aus und lehnte sich zurück. Ihre Unruhe begann sich zu legen. Vollkommen unbegründet, redete sie sich ein.
* * *
Thorsten Gollek hatte es im Gespür, dass die Kleine etwas witterte. Er selbst wusste noch nicht, was, wie und wo. Doch dass er mit ihr etwas anfangen würde, wusste er, seit sie eingestiegen war.
Verstohlen blickte er über die Schulter nach hinten, wo die Koje verdeckt hinter einem dunkelgrauen Vorhang lag. Gut, dass er ein ausladendes HSV -Banner davorgehängt hatte, so fiel die Schlafkabine weniger auf. Als ob er geahnt hätte, dass er Frischfleisch laden würde.
Es war wie ein Fieber, das ihn packte. Er durfte gar nicht darüber nachdenken. Vor der Sache in Verona im Sommer letzten Jahres hatte er Hemmungen gehabt. Anhalterinnen hatte er schon immer auf seinen Fahrten durch ganz Europa mitgenommen. Doch früher hatte er sie mit anderen Augen betrachtet. Er hatte auch damals mit einigen geschlafen, die freiwillig mitgemacht hatten. Es war allerdings von Jahr zu Jahr schwerer geworden. Seit Verona aber wusste er, wie einfach es sein konnte, sich zu holen, was er wollte. Er spürte den besonderen Kick dabei. Als er die Kleine vorhin mit ihrem Hund am Straßenrand hatte stehen sehen, hatte ihn dieses Fieber wieder gepackt. Wie ein Blitz war es durch seinen Körper gefahren und hatte ihn zum Glühen gebracht: Die isses!
»Mein Vater ist Polizeipräsident!« Ihre Stimme hatte gezittert, als sie es sagte. Nie und nimmer war ihr Vater Polizeipräsident. Sie hatte nur plötzlich Angst
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