Jenseits der Alpen - Kriminalroman
geöffnet, als ob er gleich etwas sagen wollte. Sein Gesicht war mit kleinen Vertiefungen überzogen, und zwischen den Augenbrauen in dichtem Weizenblond hatte sich eine einzige senkrechte Falte gebildet. Als ob er über etwas nachdachte oder sich über etwas ärgerte. Doch – obwohl Amelie keine war, die rasch Vertrauen fasste – wirkte der ganze Kerl auch jetzt nicht wirklich furchterregend.
Giorgio zu ihren Füßen hatte sich zusammengekuschelt. Der Dreihundert- PS -Motor vor ihnen brummte. Gollek rauchte in hastigen Zügen die nächste Zigarette.
»Was müssen Sie denn dort abliefern?«, fragte Amelie, um die Stille zwischen ihnen zu unterbrechen.
Er zuckte mit den Schultern und nahm einen hastigen Zug. Es war, als müsste er überlegen. »Ich habe Fahrräder geladen. Mountainbikes. Mountainbikes und Fahrradteile.« Ein schelmischer Zug legte sich über sein Gesicht. »Magst mithelfen beim Abladen?«
Sie zog eine Schnute. »Ich übernehm dann die Ersatzteile. Giorgio kümmert sich um die Fahrräder«, sagte sie leichthin und kicherte verlegen. »Er beißt so gern in Reifen.«
Er verzog das Gesicht zu einem Lächeln und nickte wortlos. Auch sie schenkte ihm ein unbeachtetes Lächeln.
Der Verkehr wurde dichter. Sie näherten sich der Abzweigung vor Bozen, an der es links nach Meran und rechts nach Innsbruck ging. Gollek hielt sich rechts. Seine Finger trommelten auf das Lenkrad, das einen hellen Schutzbezug hatte. Hinter hässlichen Fassaden, die sich mitten in einem Gewerbegebiet auftürmten, legte die Sonne einen violetten Lichtschein über ein dunkles Tal, an dessen Ende eine halb verfallene Burg emporragte.
Giorgio hatte sich unbemerkt auf den Weg gemacht und sich im Raum zwischen den beiden Sitzen niedergelassen. Thorsten nahm die rechte Hand vom Lenkrad und ließ sie auf seinen Oberschenkel gleiten. Er trug grobe Leinenhosen mit Seitentaschen. Dann wanderte die Hand weiter über Giorgios flockigen Körper.
Amelie wollte nicht, dass ein fremder Mensch ihren Hund berührte. Sie langte hinüber und versuchte Giorgio wieder an seinen Platz zu zerren. Golleks Hand kam ihr entgegen. Sie berührten sich. Wie von der Tarantel gestochen zuckte sie zurück.
»War das Absicht?«, fragte sie ihn.
»War was Absicht? Was meinst du?«
Dass Sie mich mit der Fingerspitze berührt haben, wollte sie ihn fragen. Aber sie kam sich selbst lächerlich dabei vor. »Ach, nichts«, sagte sie stattdessen.
Sie spürte eine wachsende innere Erregung und kannte den Grund nicht. Der Mann war freundlich. Er benahm sich normal. Er wollte ihr und dem Hund schließlich helfen und hatte sie mitgenommen.
Trotzdem.
War das die berühmte weibliche Intuition, von der ihre Großmutter so viel hielt? Kind, pflegte sie zu predigen, folge deinem Bauchgefühl. Greif zu, wenn du von etwas oder von jemandem freudig gestimmt wirst. Und sei vorsichtig, wenn du ein schlechtes Gefühl im Magen hast.
Amelie hatte solch ein schlechtes Gefühl. Sie blickte auf ihre Hände. Etwas an der Art, wie er sie anschaute, weckte den Argwohn in ihr. Sie überlegte, woran das liegen mochte. Blödsinn, sagte sie sich. Ich sehe Gespenster. Was sollte sie schon tun? Was hätte sie dagegenzusetzen? Sollte sie in die Bremsen treten? Den Zündschlüssel umdrehen? Dem Mann in die Eier treten?
Sie brachte kein Wort über die Lippen. Großmutter hätte gesagt: Es war einer jener Augenblicke, in denen man nichts zu sagen weiß, obwohl es so viel zu sagen gäbe.
Verstohlen blickte Amelie aus dem Seitenfenster. Vertraute Landschaft – Berge, Täler, Kirchen, Dörfer – zog langsam vorbei. Sie war vier Tage zu Besuch bei den Großeltern gewesen. Hatte als Bedienung in deren kleinem Strandcafé in Gargnano direkt am Gardasee ausgeholfen. Sie war oft und gern bei den Großeltern. Ihr Vater stammte aus Gargnano. Er war Professor an der Uni Innsbruck, die Mutter arbeitete ganztags in einer großen Finanzberatung. Amelie war im Wesentlichen selbstständig, und das genoss sie. Sie spielte Tischtennis im Verein, hatte dabei ihren ersten Freund kennengelernt, ein Tiroler wie sie. Zurzeit war sie unbemannt und konzentrierte sich voll auf ihr Studium und das Sporttraining. Nun freute sie sich auf zu Hause, auf Ostern und die Zeit mit den Eltern und ihrem jüngeren Bruder, der aufs Gymnasium ging.
Ein urplötzlicher Bremsruck riss sie aus ihren Gedanken.
»Blödes Schwein!«, fluchte Thorsten. Er hatte das Lenkrad herumgerissen und war voll in die Bremsen gestiegen, um einem
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