Jenseits der Finsternis
vollkommen gleichgültig.
Später, als er seine Wut abreagiert hatte, suchte er die nächste Apotheke auf und besorgte sich alle möglichen Medikamente. Zur Sicherheit. Niemand sollte triumphieren, daß er die fünf Jahre seiner Supremisierung nicht überstand.
Führer entwickelte eine neue Zeitrechnung. Vor SE – vor Supremisierungsende.
55 Monate und eine Woche vor SE kam ihm der Gedanke, daß noch andere Verurteilte auf erhöhtem Existenzniveau lebten. Es müßte doch möglich sein, einen seiner Schicksalsgenossen aufzuspüren und ihre Strafen gemeinsam abzubüßen. Vielleicht traf er sogar eine Frau. Von dieser Idee begeistert, besorgte er sich sofort Zeitungen. Sein Herz schlug schneller vor freudiger Erwartung, als er erfuhr, daß erst vor wenigen Tagen ein Massenmörder zu lebenslanger Supremisierung verurteilt worden war. Zum Glück hatte sich Führer nur an Donkeys und nicht an Menschen vergangen.
Der Verurteilte – er hieß Magurskai – mußte sich irgendwo in der Stadt aufhalten. Wahrscheinlich würde auch er erst allmählich herausfinden, was ihm erlaubt war und was seine Konditionierung verhinderte.
Sofort machte sich Führer auf den Weg. Tagelang durchstreifte er die Stadt, wobei er ständig Magurskais Namen schrie. Normale Terraner nahmen ihn nicht wahr, aber Magurskai würde ihn hören – vielleicht.
Das Bewußtsein, nicht der einzige Supremisierte in der Stadt zu sein, trieb Führer vorwärts. Er ließ sich auch nicht entmutigen, als sich wochenlang kein Erfolg einstellte. Es gab viele Straßen hier. Einmal würden sie nicht mehr aneinander vorbeilaufen.
Oder – befand sich Magurskai etwa gar nicht auf seinem eigenen Existenzniveau?
Führer wehrte sich verzweifelt, daran zu glauben.
Abends, etwa 48 vor SE. Ein Jahr durchgehalten. Und kaum noch Kraft in sich. Führer fühlte sich innerlich verbrannt, ausgehöhlt. Diese Sadisten! Nur noch 48 Monate. Das schaffte er. Auf jeden Fall, das schaffte er.
Aber Führer wußte, daß er nie wieder der gleiche sein würde wie vor seiner Supremisierung. Er würde …
Da rief doch jemand! »Magurskai!« schrie er. »Bist du in der Nähe?« Er stand am Rand eines Platzes. Kaum jemand hielt sich noch hier auf. Die Kühle des Abends vertrieb die Menschen.
»Hier«, drang schwach die Antwort an sein Ohr.
»Wo, Magurskai? Wo?«
Dann sah er die gedrungene Gestalt, hundert Meter vor ihm, und die Gestalt winkte, und er winkte zurück. Nur der freie Platz lag zwischen ihnen.
Führer setzte sich in Bewegung. Er war gerettet. Zu zweit würde er durchhalten. Nur nicht mehr allein sein, einsam in einer Welt voller Menschen.
Weiße Nebelschwaden verschleierten seinen Blick. Je dichter sie sich zusammenzogen, desto schwerfälliger kam er vorwärts. Blödsinn. Alles nur Einbildung.
»Magurskai! Bist du noch da?«
»Ja! Hier! Hier! Wo bist du? Ich sehe dich nicht mehr. So ein Nebel …«
»Warte! Ich komme zu dir!«
Schritt für Schritt kämpfte Führer sich vorwärts. Er hatte das Gefühl, daß der Nebel Taue ausbildete, die sich um Hände und Füße schlangen und ihn zurückhielten. Unsinn. Ein ganz normaler Nebel. Wie oft in, dieser Jahreszeit. Nur Einbildung.
Dann begannen auch die Schmerzen. Flammen, die in jeder Zelle seines Körpers aufloderten, und der Nebel entfachte sie, und sie verbrannten ihn, Atom für Atom.
Führer biß die Zähne zusammen. Die Zähne waren nichts als Schmerzen.
Und noch einen Schritt. Muskeln anspannen, Bein anheben, vorsetzen. Muskeln anspannen, vorsetzen! Er kam nicht mehr vom Fleck.
Dabei hinderte er sich selbst am Gehen. Er hatte es gelesen: Bei der Supremisierung wird der Verurteilte derart konditioniert, daß er nichts unternehmen kann, was einem Lebewesen schadet oder seine Strafe erleichtert.
Nun wußte Führer, was dieser letzte Abschnitt bedeutete. Es war ihm nicht möglich, zu nahe an einen Schicksalsgenossen heranzutreten.
Führer hielt es nicht mehr aus. Fliehen! So weit wie möglich weg von Magurskai. Er drehte um und rannte davon. Wie leicht, wie spielerisch sich seine Beine doch bewegten. Jeder Schritt brachte Linderung. Zunächst verschwanden die Schmerzen, und wenig später auch der Nebel, und Ex-Commander Maxim lief und lief und lief, solange ihn die Beine trugen. Dann stolperte er und fiel.
Führer erwachte und erhob sich unsicher vom Asphalt der Nebenstraße. Seine vor Kälte erstarrten Gliedmaßen ließen sich nur unter großen Anstrengungen bewegen. Er vermochte kaum einen klaren
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