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Jenseits der Finsternis

Jenseits der Finsternis

Titel: Jenseits der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Nagula
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Gedanken zu fassen. Er fror erbärmlich. Seine durchnäßte Kleidung (hatte es über Nacht geregnet?) diente längst nicht mehr als Wärmeschutz.
    Mühsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Fast automatisch ging er mit klappernden Zähnen immer weiter. Er wußte nicht, wo er sich aufhielt. Wollte es auch nicht erfahren.
    Schließlich erreichte er ein Restaurant, das bereits gut besucht war. An einem Automaten ließ er sich einen Becher Kaffee reichen. Einige der Gäste blickten in seine Richtung, als der Becher in der Luft schwebte und die dampfende Flüssigkeit spurlos verschwand, doch niemand näherte sich ihm.
    Der Kaffee wärmte Führer, aber schon Sekunden später kroch die Kälte wieder in ihm hoch. Diese Sadisten. Warum verhinderten sie, daß er sich mit Magurskai traf? Es konnte ihnen doch egal sein.
    Noch 48 Monate – vier Jahre. Nach dieser Zeit würde er ein willenloses Bündel Mensch sein, ein gebrochener Mann, der den Rest seines kümmerlichen Daseins in einer Anstalt verbringen würde. Nein. Diese Genugtuung durften sie nicht erleben, ihn, Commander Maxim, als menschliches Wrack zu sehen.
    Führers gefühllose Finger tasteten nach der Pistole, die er stets bei sich trug. Zitternd entsicherte er sie. Richtete sie auf ein Mädchen, das ihm am nächsten saß. Schloß die Augen.
    – – – EXTRABLATT – – – Supremisierter richtet in einem Restaurant Blutbad an – – – EXTRABLATT – – – Siebzehn Tot – – – EXTRABLATT – – –
    Der Zeigefinger legte sich um den Abzug und krümmte sich.
    Das Mädchen sprang auf, starrte mit geweiteten Pupillen in seine Richtung, fiel dann rückwärts und blieb tot liegen. Panik brandete auf.
    Schöne Vorstellung.
    Er schaffte es nicht, abzudrücken. Die Schmerzen in seinem rechten Arm hinderten ihn daran. Die Konditionierung versagte niemals.
    Mit Tränen in den Augen, eine Waffe in der Hand, stand Führer breitbeinig im Restaurant. Jemand trat ein, kam ihm zu nahe. Er wurde zur Seite gestoßen, krachte auf den Boden. Niemand kümmerte sich um den Revolver. Jeder wußte, daß nichts passieren konnte.
    Führer rappelte sich auf. Legte den Lauf der Waffe an seine Schläfe.
    »Ich bringe mich um«, schrie er. »Seht her, ich bringe mich um.«
    Niemand sah hin, denn niemand hörte ihn. Keiner achtete auf die schwebende Pistole.
    Die Konditionierung verhinderte den Selbstmord.
    Führer warf die nutzlose Waffe weg, rannte zum Lift, ließ sich ins Dachgeschoß fahren. Hinauf auf das Flachdach. Hier wehte ein schwacher, eiskalter Wind.
    Führer trat an den Rand. Einen Sturz aus 70 m Höhe würde er nicht überleben. Bis auf einen Meter näherte er sich dem Abgrund, dann schaffte er keinen Schritt weiter.
    Ich muß die Konditionierung überlisten, dachte er. Ich will mich gar nicht umbringen. Nur einen Blick hinabwerfen. Nichts weiter. Dann geh ich sofort zurück. Ehrenwort.
    EHRENWORT.
     
    Noch zehn Minuten später stand Führer einen Meter vor dem Rand des Daches und weinte, weinte …
     

 
M ICHAEL K. I WOLEIT   Das Haus auf der Klippe
     
    Der Spätherbst hatte einen diesigen Schleier über die Landschaft ausgebreitet, als Conrad zum erstenmal am Rand der schartigen Klippen entlangschritt. Über endlose Meilen hinweg lag die Felsküste in vollendeter Abgeschiedenheit vor ihm. Die kargen, vergilbten Grasflächen, die das Vorgelände des Abgrunds säumten, waren von frischem Tau benetzt, und in der kühlen, salzig schmeckenden Luft regte sich nichts außer einer gelegentlichen sanften Bö vom Meer.
    Conrad ging so nah wie nur möglich an die Kante der Felswand heran, die sich vor seinen Füßen vierzig Meter bis auf den schmalen Sandstreifen hinabsenkte, der von weiten, ruhigen Uferwellen betastet wurde. Hier und dort ragten abgerundete Felsen aus den Fluten hervor, an denen Tangreste hingen. Das Meer führte Unmengen Treibgut mit sich, das zuweilen über mehrere Meilen den Strand als ein Saum von Muscheln, Schnecken und Algen bedeckte, wie eine Opfergabe dargeboten vor dem titanischen, steinernen Altar der Klippen.
    Conrad schenkte all diesen Details jedoch nur unbewußte Beachtung. Seine Aufmerksamkeit galt der Gesamtheit der Eindrücke dieses zeitlosen Gemäldes, der polyphonen Harmonie seiner Einzelheiten. Diese zerbuchtete Küstenlandschaft beeindruckte durch ihre rauhe Schönheit, die so katalysierend auf den Fluß seiner Gedanken wirkte: ein Archetyp von Einsamkeit und Frieden.
    In den Tagen seit seiner Ankunft war ihm die mit Unmut geladene

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