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Jenseits der Finsternis

Jenseits der Finsternis

Titel: Jenseits der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Nagula
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einer Krankheit, die stetig um sich griff. Aber trotz des offenkundigen Bedürfnisses nach Muße in einer solchen Umgebung war hier niemand glücklich. Allzu deutlich schimmerte unter dem abblätternden Putz der grauen Mauern noch der zweifelhafte Glanz jener Welt durch, vor der man hierher geflohen war, schimmerte wie ein polierter, beleuchteter Spiegel, in dem jeder nur sich selbst sah. Wirkliches Alter, stellte Conrad fest, besitzt eine Aura, in die man sich wie in einen Mutterschoß flüchten kann. Der Alte verströmte diese Aura, das Dorf nicht. Gegen den Hintergrund der grauen Mauern hob er sich ab wie eine plastische Figur von einer Kohlezeichnung.
    In den folgenden Tagen war Conrad beinahe ständig auf den Klippen, beobachtete von weitem das Haus und den Alten, der, solange es hell war, vor dem Abgrund hockte und nur gelegentlich hinabstieg, Treibgut sammelte und in sein Haus brachte, um anschließend von neuem übers Meer zu starren. Wenn es dunkel wurde, schlurfte er träge in sein Haus und blieb dort bis zum frühen Morgen. Nur selten verließ er die Klippen, um ins Dorf zu gehen.
    Einige Abende und Nächte blieb Conrad bei dem Haus, in dem sich nach Einbruch der Dämmerung nie etwas regte, ging um die brüchigen Mauern und suchte nach Rissen im Verputz, durch die er den Innenraum hätte einsehen können. Da der Alte aber offensichtlich nie Licht machte, blieben diese Bemühungen vergeblich. Trotz seines Alters und des fortgeschrittenen Zerfalls hielt das Haus sein Innenleben strikt verborgen. Kein Lichtstrahl drang durch die Bretterverschläge, kein Laut schien das morsche Mauerwerk durchdringen zu können. Es stand so unberührbar auf den Klippen wie eine Schatztruhe auf dem Bug eines untergegangenen Schiffes, von der Zeit angegriffen und doch allem Zugriff trotzend.
    Conrad fühlte sich von der Zeitlosigkeit des Hauses und seines Bewohners, des Meeres und all der Geheimnisse, die sie gemeinsam bargen, unwiderstehlich angezogen. Wann immer er hier eintraf, fühlte er sich, als wäre er gerade aus einem langen Traum aufgewacht, in den er wieder zurücksank, wenn er zwischenzeitlich im Dorf war. Doch er ahnte, daß es für ihn mehr als diese Klarheit, diese Geborgenheit zu entdecken gab. Der alte Mann war der Schlüssel zu etwas Unbekanntem, Conrad wußte nur nicht, wie man die Rätsel, die ihn umgaben, entwirren konnte. Es mochte daran liegen, daß er bei aller Anziehungskraft, welche die Landschaft auf ihn ausübte, noch immer eine vage Angst verspürte.
    An einem Tag schließlich, als er seit über einer Woche nicht mehr im Dorf, sondern auf den Klippenhängen geschlafen hatte, wagte er einen Versuch, die Distanz zwischen sich und dem Alten zu überwinden. Es erwies sich als einfacher, als er zu hoffen gewagt hatte. Conrad brauchte nur wie zufällig die Küstenlinie bis zu dem Haus entlangzuschreiten und den Alten auf irgendeine Belanglosigkeit anzusprechen, das genügte, um sich mit ihm in ein langes Gespräch zu verwickeln. Sie kamen sich dabei rasch näher. Wenngleich zunächst nur oberflächlich, ging der Alte auf Conrad ein, als wären sie Freunde, die sich schon seit Jahren kannten. Conrad verwirrte das, er pendelte unschlüssig zwischen einem Sich-treiben-lassen und einem Eingeständnis der Merkwürdigkeit ihrer Begegnung. Zwar kehrte er dem Dorf nun vollends den Rücken, doch ob er die folgenden Tage nicht auch als Traum einordnen sollte, wußte er später nicht zu sagen.
     
    »Es ist ganz einfach«, erklärte Phil und strich sich eine im Wind zitternde Strähne von der Stirn. »Hier zu sein und alles andere hinter sich zu lassen. Überhaupt, alles andere ist nur ein Traum, das weiß ich ganz sicher.«
    »Ich verstehe dich nicht«, erwiderte Conrad und musterte prüfend das verwegen intelligente Gesicht seines Gegenübers. Er wurde aus der verschlüsselten Mimik nicht klug. »Ein Traum. Hm, ich wünschte, es wäre so. Ich wünschte, alles, was ich außer dieser Landschaft kenne, würde nicht existieren. Deshalb bin ich hier. Die Illusion, du verstehst …« Conrad erschrak darüber, daß er zu ihm ehrlicher war als zu sich selbst.
    »Es liegt an dir«, sagte Phil. »Du brauchst dazu nicht einmal vergessen, du mußt nur überwinden lernen.«
    »Was heißt das: überwinden? Es fällt mir auf, daß du nie über die Vergangenheit redest, du erwähnst immer nur das Jetzt.«
    »Das ist richtig. Aber es gibt nichts anderes, Conrad. Wir können nur die Gegenwart empfinden. Vergangenheit und Zukunft

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