Jerusalem: Die Biographie (German Edition)
ihren Kirchen für müde Gläubige bereitliegen. Nachts ist die Kirche erfüllt von einem wohlklingenden Summen der vielen Lieder in verschiedenen Sprachen wie ein steinerner Wald, in dem viele Vögel jeweils ihre Melodie singen. Das ist Jerusalem, und Nusseibeh weiß nie, was passieren wird: »Ich weiß, dass Tausende auf mich angewiesen sind, und mache mir Sorgen, ob das Schloss nicht aufgehen oder etwas schiefgehen könnte. Ich habe es zum ersten Mal mit 15 Jahren aufgeschlossen, damals war es für mich ein Spaß, aber jetzt weiß ich, dass es eine ernste Sache ist.« Ob Krieg oder Frieden, er muss die Tür öffnen, und erzählt, dass sein Vater oft zur Sicherheit im Vorraum der Kirche schlief.
Nusseibeh weiß, dass es mehrmals im Jahr zu Streitigkeiten zwischen den Priestern kommt. Selbst im 21. Jahrhundert schwanken die Priester immer noch zwischen beiläufiger Höflichkeit, die aus guten Manieren und den anstrengend langen Nächten in der Grabeskirche erwächst, und eingefleischten historischen Ressentiments, die jederzeit, besonders aber Ostern explodieren können. Die Griechen, die am zahlreichsten sind und den größten Teil der Kirche verwalten, bekämpfen die Katholiken und Armenier und gewinnen in der Regel. Zwischen Kopten und Äthiopiern herrscht ein besonders schlechtes Verhältnis, obwohl beide Monophysiten sind: Nach dem Sechstagekrieg übergaben die Israelis in einer seltenen Einmischung die koptische Michaelkapelle den Äthiopiern, um Nassers Ägypten zu bestrafen und Haile Selassies Äthiopien zu unterstützen. Bei Friedensverhandlungen gehört es gewöhnlich zu den Forderungen der Ägypter, die Kopten zu unterstützen. Das Oberste Gericht Israels entschied, dass die Michaelkapelle den Kopten gehört, aber weiter im Besitz der Äthiopier bleibt – eine Situation, die typisch für Jerusalem ist. Als ein koptischer Priester sich im Juli 2002 in der Nähe der baufälligen äthiopischen Dachterrasse sonnte, verprügelten sie ihn mit Eisenstangen als Strafe für die gemeine Behandlung, die die afrikanischen Brüder von den Kopten erfuhren. Die Kopten eilten ihm zu Hilfe: Vier Kopten und sieben Äthiopier (die hier offenbar jede Rauferei verlieren) mussten ins Krankenhaus gebracht werden.
Im September 2004 bat der griechische Patriarch Ireneos beim Fest des Heiligen Kreuzes die Franziskaner, die Tür zur Erscheinungskapelle zu schließen. Als sie sich weigerten, ließ er seine Leibwächter und Priester auf die Katholiken losgehen. Die israelische Polizei schritt ein, wurde aber von den Priestern angegriffen, die sich oft als ebenso harte Gegner erweisen wie palästinensische Steinewerfer. Beim heiligen Feuer 2005 kam es zu einer Schlägerei, als statt des Griechen beinahe der armenische Superior mit der Flamme herausgekommen wäre. [285] Der schlagkräftige Patriarch Ireneos wurde schließlich abgesetzt, weil er das Imperial Hotel am Jaffator an israelische Siedler verkaufte. Nusseibeh zuckt müde die Achseln: »Na ja, als Brüder haben sie so ihre Meinungsverschiedenheiten, und ich helfe ihnen, sie beizulegen. Wir sind neutral wie die Vereinten Nationen und bewahren den Frieden in dieser heiligen Stätte.« Nusseibeh und Judeh übernehmen bei jedem christlichen Fest komplexe Aufgaben. Im fiebrigen Gedränge beim heiligen Feuer fungiert Nusseibeh als offizieller Augenzeuge.
Der Küster öffnet nun eine Luke im rechten Türflügel und reicht eine Leiter durch. Nusseibeh nimmt die Leiter an, lehnt sie an den linken Türflügel, schließt mit dem riesigen Schlüssel zunächst das untere Schloss im rechten Flügel auf, steigt dann auf die Leiter und schließt das obere Schloss auf. Sobald er von der Leiter gestiegen ist, öffnen die Priester den riesigen Türflügel und entriegeln dann den linken. Nusseibeh begrüßt sie: »Frieden!«
»Frieden!«, antworten sie optimistisch. Die Nusseibehs und Judehs öffnen die Grabeskirche seit mindestens 1192, als Saladin die Judehs zu »Hütern des Schlüssels« ernannte und die Nusseibehs zu »Hütern und Torhütern der Kirche des Heiligen Grabes« (wie es auf Wajeehs Visitenkarte steht). Die Nusseibehs, die auch die erbliche Aufgabe erhielten, den Felsen, Sakhra, im Felsendom zu reinigen, behaupten, Saladin habe sie lediglich wieder in ein Amt eingesetzt, das Kalif Omar ihnen 638 übertragen habe. Bis zur albanischen Eroberung in den 1830er Jahren waren sie sehr reich, aber derzeit verdienen sie ihren spärlichen Lebensunterhalt als Fremdenführer.
Die beiden
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