Trolljagd
Prolog
Damals, als er ein kleiner Junge war und die ersten Zirkel des Allerheiligsten studierte, hatte Julius es geliebt, sich aus den Unterrichtsstunden im Großen Haus wegzuschleichen und sich stattdessen die Horrorfilme der Samstagnachmittagsvorstellungen anzusehen. Irgendetwas an diesem Schrecken, der sich in den Augen der Opfer widerspiegelte, kurz bevor das Monster sie oder ihn erwischte, hatte in ihm stets ein unbeschreibliches Rauschgefühl ausgelöst. Jetzt aber, da er sich in seinem eigenen Horrorfilm befand, wünschte er, er hätte mehr Mitgefühl mit ihnen gehabt.
Julius war splitternackt, und seine Arme waren an einem hölzernen Pfeiler über seinem Kopf befestigt, von dem aus man den Ozean überblicken konnte – wenn man das trübe, dunkle Wasser unter ihm überhaupt als solchen bezeichnen durfte. Durch die weißen Haarsträhnen, die ihm ins Gesicht hingen, konnte er die schwarze Brühe sehen und die Fratzen der armen Seelen, die in ihr gefangen waren. Sie waren die Vergessenen, jene Geister, die entweder zu schwach oder zu niederträchtig waren, um die Reise in den Himmel oder die Hölle anzutreten. Julius versuchte die Augen zu schließen und sich vorzustellen, er befände sich auf einer friedlichen Reise über den Atlantik, aber als er die kalte Luft einatmete, schmeckte sie nicht nach Salz, nur nach Tod und Leid. Als das Plätschern der Ruder einer kleinen Jolle, die in der Nähe unterwegs war, an seine Ohren drang, fürchtete er, es könnte das Letzte sein, was er je hören würde. Keiner der Passagiere der Jihad besaß einen Rückfahrschein.
In all den Jahren, in denen er nun schon mit dem Orden trainierte, waren ihm Kreaturen wie die, die aus dem Boden des Allerheiligsten gekrochen waren, noch nie begegnet. Diese Monster, die so abscheulich waren, dass sie nur den Tiefen der Hölle entsprungen sein konnten, hatten jeden in ihrem Umkreis vernichtet, selbst den großen Bruder Angelo. Als die Schlacht begonnen hatte, war Julius’ Klinge die erste gewesen, an der das Blut der Feinde des Ordens klebte. Er hatte so viele wie möglich von ihnen getötet, ehe ihn die Axt eines Trolls traf. Mit angsterfüllten Augen konnte er gerade noch beobachten, wie das widerliche Biest ausholte, um ihm den Todesstoß zu versetzen, aber danach konnte er sich an nichts mehr erinnern. Er war als Gefangener der Jihad , dem Geisterschiff, das die verstorbenen Seelen ins Reich der Toten transportierte, aufgewacht und sah sich nun jemandem ausgeliefert, der noch viel teuflischer war als die bestialischen Trolle: dem Fährmann Ezrah. Julius versuchte, seine selten gebrauchte Magie zu beschwören, um die Fußeisen zu brechen, aber es gelang ihm nicht. Hier im Land der Toten konnte er nicht einmal einen Funken jener magischen Fähigkeiten aufbringen, die ihm von seinem missratenen Vater vererbt worden waren.
»Schone deine Kräfte, hier besitzt du keine Macht«, sagte Ezrah, der mit hinter dem Rücken verschränkten Händen aus dem Nebel auftauchte, der das Deck der Jihad verhüllte. Seine Haut war so transparent, dass Julius ihn durch den Nebel fast nicht erkennen konnte. Und doch, je näher er kam, desto dreidimensionaler wurde er, und seine Haut nahm allmählich ihren eigentlichen bronzefarbenen Ton an. Er trug einen dünnen Brustharnisch aus Leder über einer weißen Tunika, die bis knapp über seine Knie reichte. Der geflochtene Zopf, der von seinem ansonsten kahlrasierten Kopf hing, baumelte sanft in dem gespenstischen Wind, der das Schiff antrieb.
Julius reckte den Hals und bedachte den geisterhaften Kapitän mit Hohngelächter: »Wenn du gekommen bist, um mich ins Jenseits zu befördern, dann bring es endlich hinter dich.«
Ezrah grinste und sah dadurch beinahe menschlich aus. »Das wohl eher nicht, tapferer Soldat. Ich bin stattdessen gekommen, um dir ein Angebot zu machen.«
»Nach allem, was du und deine Geister dem Orden angetan haben, würde ich eher sterben, als dir zu dienen!«, entgegnete Julius hitzig.
Ezrah sah ihn amüsiert an. »Dass du überhaupt noch in der Lage bist, diese Diskussion mit mir führen zu können, dürfte wohl beweisen, dass der Tod ein sehr relativer Zustand ist.« Er fuhr mit seinen Händen durch den Nebel, und Julius sah einen Moment lang einen kleinen Ausschnitt der Szene, als der Troll ihn mit der Axt am Fuß der Stufen des Allerheiligsten traf. »Viele deiner Brüder haben dieses Gewässer heute Nacht bereits überquert, und es werden sicher noch einige mehr werden, bevor
Weitere Kostenlose Bücher