Jesses Maria - Hochzeitstag
ich von meinen Eltern nichts mehr zu erwarten hatte. Tante Anni war zwar ein Biest, aber sie ließ auch immer einen Fünfer springen, wenn sie mich zu ihrer Zufriedenheit über Neuigkeiten in der Familie ausgequetscht hatte.
Wir saßen also eines Tages zu viert bei Kaffee, Torte und meinem Florida Boy im Zwischengeschoss des Cafés auf Chippendale-Stühlen, als Tante Anni sich unvermittelt Meggi zuwandte.
Sie stach dabei gedankenverloren immer wieder mit der Gabel in ihre Schwarzwälder Kirschtorte.
„Ach, Meggi, das mit dem Kuddel ist so traurig.“
Meggis himmelblaue Augen füllten sich sofort mit Tränen. Sie hatte nämlich jüngst eine echte Tragödie erlebt.
Meggi besaß ein niedliches Streifenhörnchen namens Kuddel. Kuddel lebte in einem großen Käfig in Meggis Wohnzimmer. Sie nannte das Zimmer „Stube“. Die Tür zur Stube war außerhalb der Heizperiode immer weit geöffnet. Meggi konnte geschlossene Türen nicht ausstehen.
Eines Tages, es war im Juli, war Kuddel ausgebüxt, als Meggi den Käfig putzte. Meggi hat ihn gesucht und gesucht, das ganze Haus, den Garten und sogar die Nachbarschaft hatte sie rufend und lockend Zentimeter für Zentimeter abgegrast. Kein Kuddel. Das Streifenhörnchen war und blieb spurlosverschwunden.
In Meggis Wohnung begann es irgendwann zu riechen. Nein, das ist untertrieben, es stank bestialisch. Niemand fand die Ursache für diesen Gestank.
Dann wurde es kalt, und Meggi fing an zu heizen. Die Zeit der offenen Türen war vorbei. Meggi schloss die Stubentür, zum ersten Mal seit April.
Und dann schrie und schrie und schrie sie.
Hinter der Tür stand eine 50-Liter-Ballonflasche. Darin waren mal Blumen gewesen. Als die verblüht waren, hatte Meggi die schwere, noch zu drei Vierteln mit Wasser gefüllte Flasche hinter die Tür geschoben, Stück für Stück. Ihr Sohn sollte sie bei seinem nächsten Besuch aus der dritten Etage hinuntertragen und ausschütten, für die zarte Meggi war sie viel zu schwer. Dann wurde die Flasche samt Wasser hinter der Stubentür vergessen.
Für Kuddel ist sie zum Verhängnis geworden: Er war durch die kleine Öffnung in die Flasche geschlüpft und dann darin jämmerlich ertrunken. Als Meggi ihn fand, schwamm er mit dem Bauch nach oben. Er war obszön dick geworden.
Für Meggi war das ein traumatisches Erlebnis. Zumal die Flasche im Garten mit einem Hammer zertrümmert werden musste, bevor man die Wasserleiche unter den Forsythien bestatten konnte.
Tante Anni trug auch im Café Finselbach die Persianerkappe mit Nerzrand auf ihrer blasslila Dauerwelle.
Jetzt neigte sie den Kopf, wandte sie Meggi zu und sagte mit zärtlicher Stimme: „Meggilein, dass du da jetzt eine Jacke ausEichhörnchenpelz trägst, das wusstest du aber, oder?“
Meggi ließ die Gabel sinken und starrte ihre beste Freundin ungläubig an. Tante Anni redete sehr langsam weiter: „Fehwamme. Feh ist ein australisches Eichhörnchen, und Wamme ist ein anderes Wort für Bauch. Also ist deine Jacke aus Eichhörnchenbäuchen. Wusstest du das wirklich nicht?“
Die Käsesahnetorte mit Mandarinen fiel von Meggis Gabel.
Tante Anni dachte laut nach: „Wie groß ist so ein Eichhörnchen? So groß wie ein Streifenhörnchen? Ich meine, deine Jacke ist Größe 50, da sind bestimmt viele Tierchen geschlachtet…“
„Anni!“, riefen beide Damen im Chor und spuckten dabei ein bisschen Sahnetorte aufs Tischtuch. Kukident Haftcreme war noch nicht erfunden, und es dauerte einen Moment, bis Kakas Zahnprothese wieder richtig saß.
Kaka sagte: „Anni, wie kannst du denn sowas sagen?“
Meggi warf die Gabel auf den Kuchenteller und sah verzweifelt auf ihren Eichhörnchenpelz, der über der Stuhllehne hing.
Tränen liefen über ihr gepudertes Gesicht und hinterließen feine Streifen.
„Wieso? Ist doch wahr. Und dein Mantel, liebe Kaka, ist Ratte. Bisam ist Ratte, das weiß doch jeder“, sagte Tante Anni.
Kaka und Meggi sahen sich an. Kaka nestelte einen Zwanzigmarkschein aus ihrer Krokotasche, schnappte ihren Rattenpelz, bellte: „Komm, Meggi, das müssen wir nicht haben!“
Die beiden verließen das Café und ich saß mit Tante Anni alleine da. Die zuckte nur die Schultern und sagte: „Sie hätten sich erkundigen können.“ Dann bestellte sie sich noch ein Kännchen Kaffee und einen Eierlikör.
Mit 66 Jahren
Meine Tante Anni war immer eitel. Sie blieb zum Beispiel jahrelang sechsundsechzig. Obwohl jeder in der Familie ihr wahres Alter kannte, feierte sie schmunzelnd immer
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