Blutflucht - Evolution
Blutflucht
Es war Freitagabend. Wie so oft half ich meinem Onkel Sam an der Bar aus. Seine urige Kneipe lag im Herzen von Greytown und langsam füllte sich der kleine Raum mit Gästen, während die alte Jukebox schon ein zweites Mal dieselben Lieder rauf und runter dudelte. Viele Männer, die meisten von ihnen Fischer und Hafenarbeiter, suchten nach einem langen und harten Arbeitstag Ablenkung, was den Alkoholverbrauch enorm in die Höhe trieb. Jeweils in Gruppen zu vier bis sechs Leuten drängten sie sich um die Tische, spielten Karten oder klagten sich gegenseitig ihr Leid über die Missstände, die der Machtwechsel mit sich gebracht hatte. Ein fischiger Geruch klebte an ihren Stiefeln und Seetang an den Wachshosen. Ich konnte Fisch nicht ausstehen! Warum musste ich gerade in dieser heruntergekommenen Stadt leben?
Meine eigentliche Verdienstquelle bestand darin, ein paar Zimmer zwei Stockwerke über dieser Kneipe zu vermieten. Ein Schild an der Tür meiner Pension verriet den Leuten, dass sie mich, Kate McAdams, hier, mitten im Haufen grölender Männer, finden konnten – falls sie eine bescheidene, aber saubere Übernachtungsmöglichkeit suchten.
Das Geschäft lief so einigermaßen. Viele, die neu in diese Stadt kamen, um Arbeit zu suchen, brauchten erst einmal einen Platz zum Schlafen. Es war schwer in diesen Zeiten Arbeit zu finden, was nicht allein am Regierungswechsel lag. Das war es schon gewesen, als ich vor über zwei Jahrzehnten das Licht der Welt erblickte. Das war zu der Zeit, in der sich die Menschheit spaltete, denn die Welt hatte sich verändert und mit ihr ihre Bewohner.
Es gab die »Normalos« auf der einen Seite und eine ausgestoßene Minderheit auf der anderen: die Mutanten. Das waren Menschen, deren Eltern oder Großeltern sich genetischen Experimenten unterzogen hatten. Das illegale Geschäft mit der Gentechnik boomte damals. Die Ärzte versprachen mittels speziellen Therapien jede Krankheit heilen zu können.
Die Probanden, die sich den ersten Experimenten zur Verfügung gestellt hatten, waren gut bezahlt worden, daher hatten sich viele Freiwillige gemeldet. Doch der Eingriff in das menschliche Erbgut blieb nicht ohne Folgen. Die veränderten Gene mutierten bei einigen Menschen und wurden oft weitervererbt. Grässliche Missbildungen an Neugeborenen waren keine Seltenheit. Einige von denen, die nicht tot oder entstellt geboren wurden, entwickelten im Laufe des Lebens außergewöhnliche Fähigkeiten.
Manchen sah man nicht an, dass sie anders waren, so wie mir, weshalb ich dieses Geheimnis wie einen Schatz hütete. Außer mit meinen Eltern, Gott habe sie selig, und meinem lieben Onkel Sam, teilte ich dieses Geheimnis mit niemandem. Ich wollte einfach ein normales Leben führen – dazugehören. Insofern war es dann doch nicht so übel, in Greytown zu leben. Hier gab es viele Menschen wie mich, das spürte ich instinktiv.
Erneut öffnete sich die Tür und die zwei Jugendlichen, die hereinkamen – Pickelgesicht und Blondie, wie ich sie immer nannte –, rissen mich aus meinen Gedanken. Sie gingen auf die Bar zu, wo ich die meiste Zeit des Abends verbrachte. Ich hatte sie hier schon oft gesehen und konnte sie nicht ausstehen. Ständig machten sie mir gegenüber anzügliche Bemerkungen. Eben zwei Halbstarke, die gerade der Pubertät entwachsen waren und nicht wussten, wie sie mit ihren überkochenden Hormonen umzugehen hatten. Sie glaubten wohl, sie könnten damit einer jungen Frau imponieren.
Ich verstand sie irgendwie. Es war für junge Menschen schwer, Arbeit zu finden. Die meisten hingen nur herum, stahlen oder betranken sich. Sie hatten nichts, womit sie sich beweisen konnten. Keine Perspektive, keine Zukunft.
Ich blieb wie immer freundlich und mixte ihnen ihre Drinks. Alles war an diesem Abend genauso wie an jedem anderen Freitagabend: die ewig gleiche, dröhnende Musik, von Zigaretten verqualmte Luft, dieselben Gesichter.
Meinem Onkel Sam half ich so gut es ging, denn schließlich war er nicht mehr der Jüngste. Einen weiteren Angestellten konnte er sich auf Dauer nicht leisten. Für meine Hilfe stellte er mir die fünf Zimmer über der Kneipe zur Verfügung. Die Mieteinnahmen durfte ich komplett behalten. Zum Glück hatte ich von meinen Eltern eine kleine Wohnung in der Nähe geerbt, weshalb mein knappes Einkommen gerade zum Leben reichte.
Es hätte mich auch schlimmer treffen können.
Ja, eigentlich ging es mir verdammt gut.
Soeben träumte ich, wann ich endlich genug Geld auf
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