Erwartungen gegen null gingen. So wie ich das sah, hatte sich gegenüber der guten alten Zeit nichts geändert. Wer keine Briefe schrieb, bekam auch keine. Aber man wusste ja nie. Das Nep.Cent-Team wollte mir eine gebührenfreie Mastercard andrehen. Weg mit der Nachricht.
Dann war da eine Lotto-Gewinnmitteilung. Am Montag würde ich erfahren, wie viel ich gewonnen hatte. Wahrscheinlich wieder zwei Euro fünfzig, wie beim letzten Mal. Ich spielte erst wieder Lotto, seit es das Internet gab. Früher hatte ich die Scheine grundsätzlich sofort nach dem Ausfüllen vergessen und nie mitgekriegt, ob ich was gewonnen hatte. Das konnte mir jetzt nicht mehr passieren.
Die nächste Mail. Eine Grace Smith hatte es irgendwie geschafft, sich mit einer »Gewinn Notification« an meinem Filter vorbeizumogeln. Grace bekam ein Spam-Häkchen und wanderte hoffentlich für alle Ewigkeit in den Papierkorb. Nichts von meiner Cousine Verena aus dem Allgäu, nichts von meinem Bruder und natürlich auch nichts von meiner Tochter. Damit war die Liste meiner E-Mail-Kontakte auch schon fast erschöpft. Ich wollte das Programm gerade schließen und Hamburger Fitnesscenter googeln, da kam noch eine neue Nachricht.
Betreff: Sorry
Von:
[email protected] An:
[email protected] Datum: 05.06.2011
Liebe Lilli!
Nachdem du neulich gegangen warst, habe ich noch lange an dich und unser Gespräch gedacht. Und ich glaube, ich sollte mich bei dir entschuldigen. Ich finde dein »Geschichtenerzählen« zwar nach wie vor grenzwertig, aber ich hätte dich nicht als krank bezeichnen dürfen. Wer bin ich, zu beurteilen, was in dir vorgeht? Schließlich habe ich nicht Psychologie studiert, sondern PR und Kommunikation. Ich bin nur einfach der Ansicht, dass du es nicht nötig hast, dich als eine Frau auszugeben, die du nicht bist. Denn so, wie du bist, bist du richtig. Du bist zuverlässig und kannst toll organisieren, du bist kompromissbereit, du bist tolerant. Nur an Selbstwertgefühl scheint es dir zu fehlen. Ich hab mal ein bisschen im Internet gestöbert und bin auf eine Liste mit Tipps zur Stärkung des Selbstbewusstseins gestoßen (hänge ich dir an). Vielleicht kannst du etwas damit anfangen. Du musst niemanden belügen. Auch nicht dich selbst.
Deine alte Freundin Tina
Mein erster Gedanke: Das ist ja echt lieb von Tina! Ich fand es schon toll, wenn jemand Fehler zugeben konnte. Mir selbst fiel das schwer. Aber dann saugten sich meine Augen an den Worten ›zuverlässig, kompromissbereit und tolerant‹ fest. Nicht, dass das schlechte Eigenschaften wären. Aber wo stand »schön und erfolgreich«? Oder wenigstens »gutaussehend«? Ach, ich vergaß, Tina war ja ehrlich. Aber ein kleines »humorvoll« oder ein »intelligent« wäre doch wohl drin gewesen. Stattdessen: toll im Organisieren. Da hätte sie doch auch gleich schreiben können: »Quadratisch, praktisch, gut.« Und wieso meinte sie, ich müsste was für mein Selbstbewusstsein tun? Vielleicht fand ich die Mail doch nicht so lieb. Den Anhang klickte ich trotzdem auf.
»Sagen Sie zu sich selbst: Ich mag mich!« Na, das war ja mal ein toller Tipp. Erst erzählte mir Tina, ich solle nicht lügen, und dann das. Der zweite Punkt war auch nicht besser: »Schließen Sie Frieden mit den negativen Seiten von sich selbst.« Wie ich das machen sollte, stand da natürlich nicht. Und auch nicht, wie lange die Friedensverhandlungen dauern durften. Ich würde da spontan mal so zwei bis fünf Jahre ansetzen. Weiter im Text. Ich sollte meine Schwächen als Teil meiner Persönlichkeit annehmen und dann in Stärken umwandeln. Ich überlegte.
Meine größte Schwäche waren Pralinen. Wie konnte ich das jetzt in eine Stärke umwandeln? Sollte ich ins Konditoreifach wechseln, oder was? Punkt vier der Liste: »Finden Sie an jedem Menschen etwas Positives.« O ja, unbedingt. Natürlich dachte ich sofort an meine neue Chefin. Wetten, dass der Verfasser dieses Unsinns garantiert nie mit einer Yvonne Berger zusammenarbeiten musste? An der Frau war nun wirklich nichts Positives zu finden. Okay, nächster Punkt. »Nehmen Sie Komplimente an.« Ja, gern. Ich war quadratisch, praktisch, gut. Vielen Dank auch. »Führen Sie ein Pluspunktebuch. Schreiben Sie Komplimente, Lob etc. auf.« Das konnte ich gern machen. Dafür brauchte ich allerdings kein Buch. Ein Zettel von der Größe meines Daumennagels dürfte völlig reichen. »Was schätzen andere an Ihnen?« Siehe oben. »Sollten Sie nicht wissen, was Ihre Mitmenschen an Ihnen