Jetzt wirds ernst
ich mit der Stirn an eine Stuhllehne. In meinem Kopf explodiert ein greller Feuerball, und ich bin weg.
VOM SOUNDTRACK DER ERSTEN JAHRE
Mein Weg zum Theater war verschlungen. Unvorhersehbar. Holprig. Als Kind hasste ich es sogar, angesehen und vorgeführt zu werden. Die Blicke anderer Menschen empfand ich
als Zumutung. Nie wollte ich im Mittelpunkt stehen, ich wollte überhaupt nie irgendwo stehen. Ich wollte sitzen, kauern oder zusammengerollt in einer Ecke liegen, irgendwo am Rande der
Gemeinschaft, von niemandem beachtet und in der Sicherheit von Schatten und Anonymität. Eigentlich wollte ich nur meine Ruhe, und ich hasste alles, was Licht auf mich werfen konnte: Kerzen,
Lampen, Kronleuchter, Scheinwerfer.
Ganz zu Beginn meines Lebens hasste ich sogar das Tageslicht.
Mit meiner ganzen Kraft weigerte ich mich, das wohlige Weltall des Mutterbauches zu verlassen. Ich wollte ewig so weiterschweben in der warmen Nacht, nur begleitet vom dumpfen Schlag des
großen Herzens über mir, dem gelegentlichen Darmgluckern direkt vor meinem Gesicht und den rätselhaften, gedämpften Geräuschen einer unbekannten Welt jenseits meines
Universums.
Und ich schaffte es auch ziemlich lange, mich den Wehen und den verschiedenen ärztlichen Bemühungen entgegenzustemmen, siebenunddreißig Stunden lang, um genau zu sein. Doch
plötzlich ging alles schnell. Die Wehen rollten immer druckvoller und in immer kürzeren Abständen heran. Ihre schiere Kraft schob und presste mich in Richtung Ausgang. Es wurde
ungemütlich. Schließlich platzte mit einem ohrenbetäubenden Knall die Fruchtblase und ich tauchte mit der Stirn voran in eine weiche Masse. Ein geheimnisvolles, dunkles Rauschen.
Überall, unter mir, über mir, in mir. Gleichzeitig begann sich meine Schädeldecke zu verformen, mein Gesicht wurde gequetscht, die Wangen verschoben, die Ohren verfaltet. Und
plötzlich ging nichts mehr voran. Für einen unendlich qualvollen Augenblick ging es nicht weiter. Aber auch nicht zurück. Ich rührte mich keinen Millimeter, steckte fest,
gefangen in dem engen Raum, der eben noch meine Freiheit war.
Auf einmal gab es einen Ruck, etwas blubberte und schmatzte laut, direkt vor meinem Gesicht glitt das pulsierende Fleisch auseinander und mit einem weiteren satten Schmatzen rutschte ich ins
Freie.
Sofort wurde ich gepackt, verdreht und zurechtgerückt. Etwas zog und zerrte an mir, es gab einen weiteren Ruck, etwas heftiger noch als der erste, und plötzlich baumelte ich
kopfüber im Nichts. Das Blut schoss mir in den Kopf und füllte ihn bis zum Platzen aus. Es war eisig kalt, der Lärm überwältigend, Licht brannte mein Schädelinneres
aus, grell, leuchtend, rosarot, mit einem saugenden Geräusch, einer Art lang gezogenem Seufzen, brachen meine Lungen auf, ein heller Schmerz durchzuckte meinen ganzen Körper, und ich
begann zu brüllen.
Das Krankenbett ist ein Schlachtfeld, durchtränkt von Blut, Schweiß und allen möglichen anderen Flüssigkeiten. Irgendwie habe ich es geschafft und liege
jetzt in ein Tuch gewickelt auf dem leeren Bauch meiner Mutter, faltig, verbeult, vollkommen unbehaart und bläulich-violett. Ich kann das vertraute Darmgluckern hören, das dumpfe Schlagen
des großen weichen Herzens, leise, gedämpft, wie aus weiter Entfernung. Ganz nah ist meine Heimat und doch so unerreichbar.
Irgendwo im Zimmer kramt leise fluchend eine Frau in einem weiß-blauen Kittel herum. Die Hebamme. Oder die Putzfrau. Das macht keinen Unterschied mehr. Am Ende der Schlacht sind alle
Uniformen gleich. Meine Mutter liegt unter mir, ausgepumpt und schlaff. Ihre Augen sind geschlossen, der Atem geht ruhig, die Hände liegen leicht und warm auf meinem Rücken und bedecken
ihn fast zur Gänze. Auf einem Stuhl neben dem Bett sitzt vornüber gebeugt mein Vater, immer noch zitternd nach der Erschütterung. Draußen auf der Straße rauschen Autos
vorüber. Mutter öffnet die Augen. Vater legt seine Hand auf ihre Schulter. Die weiß-blaue Frau geht leise fluchend aus dem Zimmer. Eine Leuchte sirrt von der Zimmerdecke
herunter.
Das also ist das Leben.
Die Zeit und die Wirkung einer von Vater eigenhändig zusammengepanschten Kräutersalbe glätteten die Schrammen und Beulen meiner Geburt. Die Kräuter stammten
aus dem winzigen, von hohen Hecken umwucherten Gärtchen hinter dem Haus, das wir am Stadtrand bewohnten. Jeden Morgen lief Vater gebückt unter dem verkrüppelten Kirschbaum herum und
rupfte kleine Büschel aus dem taunassen
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