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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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Schlafzimmer im ersten Stock drangen immer noch die fröhlichen Geräusche meiner Eltern ins Freie.
    Ein leichtes Lüftchen kam auf. Mein Schmetterling zitterte leicht. Dann schlug er ein-, zweimal mit den Flügeln, hob ab und trug mich am Schlafzimmerfenster vorbei, über den
Kirschbaum, über unser Haus, über die Dächer der Stadt, hoch und höher und immer weiter durch die restlichen Tage dieses kurzen heißen Sommers.

KASPERLS TOD
    Mit sechs Jahren kam es zu meiner ersten Begegnung mit dem Theater. Eines Morgens lag ein kleines rosarotes Kärtchen neben meiner Kakaotasse auf dem
Frühstückstisch. Eine Eintrittskarte mit gestanzten Abrisslöchern. Immer wieder musste mir Mutter die ernsten Anweisungen darauf vorlesen: Eintritt für ein Kind, keine
Ermäßigung, Beginn dann und dann, Reihe dort und dort, Sitz so und so. Der Titel des Stückes lautete Kasperls geraubtes Picknick .
    An einem trüben Regennachmittag bestiegen wir die Straßenbahn und fuhren die paar Stationen bis ans andere Ende der Stadt. Es war über Nacht kalt geworden. Draußen dampfte
der nasse Asphalt und die Menschen hasteten mit Hüten, Schirmen und hochgeschlagenen Krägen geduckt durch die Straßen, während ich wohlig eingezwängt zwischen meinen
Eltern saß, das unregelmäßige Ruckeln der Straßenbahn unterm Hintern und eine seltsam prickelnde Erregung in der Brust.
    Gleich gegenüber der Haltestelle befand sich das Theater. Beziehungsweise das in den Fünfzigerjahren hingewürfelte Volkshochschulgebäude mit angeschlossener Mehrzweckhalle.
Die Veranstaltung schien jedenfalls gut besucht zu sein. Da es mittlerweile wie aus Kübeln schüttete, drängelten sich die Leute im Eingangsbereich. Es herrschte ein brutales
Geschiebe und Getrampel wie bei einer dieser afrikanischen Rinderherden während der verzweifelten Überwindung einer lehmigen Flussbettböschung.
    Mutter nahm den Kampf auf. Entschlossen packte sie Vater und mich an den Händen, stürzte sich ins Gewimmel und begann sich wild durch die dampfenden Leiber zu rempeln.
    Drinnen dann die Verabschiedung. Mutters Gesicht glänzte nass. Ein Gemisch aus Schweiß und Trennungstränen. Vater nickte mir zu und lächelte aufmunternd. Ein Typ in grauer
Uniform nahm meine Karte entgegen und riss sie in der Mitte auseinander. Danach wurde ich an den Schultern gepackt und in den hell erleuchteten Saal geschoben, wo schon Hunderte Kinder in langen
Stuhlreihen dicht gedrängt nebeneinanderhockten und gespannt auf die leere Bühne starrten. Ich wurde an meinen Platz geschoben, ziemlich weit vorne und fast in der Mitte. Da saß
ich, eingeklemmt zwischen einem winzigen Mädchen und einem fetten Riesen von mindestens sieben Jahren, und traute mich nicht, mich zu rühren.
    Es war laut, warm und feucht. Ein unangenehmer Geruch lag in der stickigen Treibhausluft. Ich dachte an die Eltern. Ich sah sie draußen auf der Straße durch den Regen eilen, Hand in
Hand, mit wehendem Mantel und flatterndem Rock. Ich sah sie über die Pfützen hopsen, lachend, mit vor Vergnügen weit aufgerissenen Mündern. In immer weiteren und höheren
Bögen sah ich die beiden davonspringen, bis sie schließlich endgültig abhoben und in Regenrinnenhöhe um die nächste Häuserecke flogen. Ganz leise hörte ich
Mutters helles Quietschen hinter der grauen Regenwand verklingen.
    »Abbeißen?«
    Der fette Riese hielt mir seine Semmel entgegen. Eine gelbliche, dickflüssige Masse quoll daraus hervor und lief über seine Finger. Ich schüttelte stumm den Kopf und bemühte
mich, nicht hinzusehen.
    »Macht nichts«, sagte der Riese ernst, stopfte sich die komplette Semmel in den Mund und wischte sich die Hände an seiner Hose ab. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich der
Hosenstoff eng über den weich bebenden Schenkelspeck spannte.
    Das Klingelzeichen ertönte. Gleich darauf wurde es dunkel. Musik erklang und plötzlich erstrahlte die Bühne im grellen Licht. Da, wo eben noch ein dunkles Loch in der
Mehrzweckhalle klaffte, erschien nun ein sonniger Wald aus bemalter Pappe und Draht. Eine Weile passierte nichts, dann wurde die Musik leiser, etwas regte sich hinter einem Busch, und Kasperl trat
auf.
    »Da sind ja die Kinder! Seid ihr alle daaa?!«, schrie er und ließ den Zipfel seiner Mütze kreisen. Sofort brüllte der komplette Saal einstimmig auf:
    »Jaaaa!«
    Ich blieb still. Dieser Kasperl gefiel mir nicht. Unsympathischer Bursche. Spazierte einfach so im Wald herum, hatte eine Idiotenmütze auf dem Kopf und

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