Jetzt wirds ernst
Geschirrtuchs und hängte es über die Spüle. Für einen Moment blieb er in
seiner leicht nach vorne gebeugten Haltung stehen und starrte in den Abfluss, aus dem es leise herausgurgelte. Sein Mundwinkel zuckte, seine Unterlippe bewegte sich ganz leicht. Es schien, als ob
er nach Worten suchte. Nach den richtigen Worten. Aber es kam nichts.
Er richtete sich auf, streckte seinen Oberkörper gerade, zog umständlich die Krawatte aus dem Schlitz zwischen zwei Hemdknopflöchern hervor, die er zum Schutz vor dem
Spülwasser dort hineingesteckt hatte, und lächelte mich ein wenig verlegen an. Ich lächelte auch. Oder versuchte es zumindest.
Wir fuhren mit der Straßenbahn zum städtischen Busbahnhof hinter dem Rathausplatz. Der städtische Busbahnhof war eigentlich kein Bahnhof, sondern eine rissige
Betonfläche mit zwei unkrautüberwachsenen Haltebuchten, einer hohen Bogenlampe, an der eine alte Bahnhofsuhr befestigt war, und einem bröckligen Betonhäuschen in der Mitte. Das
Häuschen sollte eigentlich den Busfahrern als Aufenthaltsraum dienen, war jedoch angeblich drinnen so versifft, dass die Fahrer ihre Pausen lieber am Tresen der nahe gelegenen Wurstbude oder
auf der Rathaustoilette verbrachten.
Es gab zwei Buslinien. Die Linie Zehn führte mit einem Schlenker über den Friedhof vom städtischen Ärztezentrum zum Marienmond und wurde dementsprechend fast
ausschließlich von den Altenheimbewohnern frequentiert. Im städtischen Volksmund nannte man sie auch die »Linie ohne Wiederkehr«.
Die Linie Elf war die Überlandverbindung. Alle zwei Stunden brachte sie ein paar müde Pendler, aufgeregte Schulschwänzer oder verwirrt dreinschauende Alzheimerrentner aus der
Stadt, trug sie weit über den Acker hinaus, durchquerte die dahinterliegende Hügellandschaft, ohne jemals an einer der wenigen verlorenen Haltestellen stehenzubleiben, und gelangte
schließlich zur Endhaltestelle direkt vor dem glänzenden Bahnhofsgebäude der nächstgelegenen, größeren, schöneren, reicheren und überhaupt alles in allem
gesehen viel städtischeren Stadt. Von hier aus ging es weiter, entweder mit dem Zug in noch fernere Gegenden, ins bahnhofsnah gelegene Pornokino oder gleich wieder mit der Linie Elf
zurück in die Demenzabteilung des Marienmondes.
Als wir ankamen, lag eine fast andächtige Morgenstille über dem Platz. Der Bus stand schon da. Ein uraltes Modell, lindgrün mit staubigen Scheiben. Der Fahrer saß hinter
seinem Lenkrad und blätterte wie in Zeitlupe in einem Schundheftchen herum. In den hinteren Reihen saßen verstreut ein paar Männer, in sich versunken, müde und graugesichtig.
Die Bogenlampe flimmerte, die Bahnhofsuhr zeigte viertel vor sechs.
Auf der anderen Seite der Betonfläche standen Max und Lotte. Er hatte beide Arme um sie geschlungen und knabberte an ihrem Ohrläppchen. Sie lachten, als sie uns sahen und kamen Hand in
Hand zu uns rübergerannt.
»Siehst scheiße aus!«, sagte Max und schlug mir mit voller Wucht seine flache Hand auf die Schulter.
»Um die Uhrzeit sieht jeder scheiße aus!«, sagte ich. Lotte stand nur da und lächelte. Vater wollte schon mal meinen Koffer in den Bus bringen. Eine Karte kaufen. Den
Platz reservieren. Den Busfahrer nach der Ankunftszeit fragen oder nach dem Streckenverlauf. Irgendetwas tun jedenfalls. Ich hielt ihn zurück. Es blieben uns nur fünf Minuten.
Immer noch war es merkwürdig still. Die Gestalten im Bus saßen unbeweglich auf ihren Plätzen. Auch der Busfahrer rührte sich jetzt nicht mehr, schien über seinem
Heftchen eingeschlafen zu sein. Mittlerweile war es etwas heller geworden. Die Dämmerstunde löste sich, hinter der Stadt ging die Sonne auf.
»Bald ist Frühling«, sagte Lotte. Sie sah gut aus. Rund und zufrieden. Der Stoff ihrer Jacke spannte über ihrem großen Bauch.
»Das kann schon noch eine Weile dauern«, sagte Max.
»War ein harter Winter, dieses Jahr«, meinte Vater.
»Ja«, sagte ich. »Ziemlich hart.«
Die Giebelspitze des Rathauses blitzte unter den ersten Sonnenstrahlen auf. Vater zupfte umständlich an seinem Hemdkragen herum und räusperte sich.
»Ich wollte …«
Weiter kam er nicht. Im Bus hatte sich der Fahrer plötzlich zu bewegen begonnen, hatte sich in seinem Sitz gerade aufgerichtet und ließ jetzt den Motor an.
Wir umarmten uns. Alle vier auf einmal. Für ein paar Sekunden lagen wir uns mit geschlossenen Augen in den Armen, spürten unsere Wärme und hörten uns atmen. Uns verband die
Ahnung, dass wir so
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