Jim
Andenken, kein Verlag druckte ihn noch. Opitz schätzte, dass er etwa drei Viertel von Andruckis deutschen und alle polnischen Sachen, die er sich hatte übersetzen lassen,kannte – außerdem die Theaterstücke. Als verloren galten seine Tagebücher, ein literarisches Manifest und besonders ein Novellen-Kranz. Diesen hatte Gerhart Hauptmann in einem Brief lobend erwähnt. Im Übrigen war ihm sein schlesischer Landsmann offensichtlich keiner Unterstützung wert gewesen.
Über Andrucki waren erschienen: drei Rezensionen, alle um die vorletzte Jahrhundertwende, und eine sowjetische Schmähschrift von Neunzehnhundertsechsundvierzig, die im Zusammenhang mit dem Tod des von den Russen geschätzten Hauptmann stand. So gesehen wäre es schon gespenstisch erschienen, wenn die Suche nach Kasper Andrucki im Netz irgendeinen Treffer gebracht hätte. Opitz kannte alle, die sich für den Dichter interessierten, namentlich und manche persönlich. Und nun durfte er hundertfünfzig Zeilen über Andrucki bringen – in einem zweitrangigen Blatt, das sich noch eine Art Feuilleton leistete. Eigentlich war das keine große Sache. Doch über seinen verehrten Schriftstellerkollegen wollte er sich nichts aus den Fingern saugen. Hätte es nicht so geeilt, wäre er für ein paar Wochen nach Polen gefahren, um in irgendeiner Provinzbibliothek oder einem Antiquariat den Novellenband zu finden. Er spürte, dass dies möglich war. Mit solch einer Sensation als Aufmacher würde jeder seinen Artikel bringen wollen, allen voran der Spiegel.
Im Moment jedoch wirkte der Andrucki-Ordner im Verhältnis zu seinem Inhalt so grotesk wie seine Handgemessen am restlichen Körper. Die Edelstahlbügel ragten über einem schmalen Stoß Blätter in eine grausame Leere. Warum hatte er für sein Dossier nicht eine Jurismappe hergenommen, die sogar leer noch freundlich wirkte? Zu spät, die Blätter waren gelocht und würden ihn aus der Mappe bloß höhnisch anglotzen.
Mit seiner linken Hand schlug Opitz den Ordnerdeckel zurück und schrie auf. Der Schmerz schoss seinen Arm hinab wie eine meterlange Nadel. Hätte man ihm sämtliche Fingernägel einen nach dem anderen mit einer Zange ausgerissen, es hätte unmöglich mehr wehtun können. Wimmernd ließ er sich aufs Bett sinken. Dabei musste er streng darauf achten, dass er nicht auf die fatale linke Seite zu liegen kam. Schweiß rann ihm die Schläfen und den Nacken hinunter. Binnen einer Minute waren sein T-Shirt und der Kopfkissenbezug durchnässt. Mit einer Hand, wie Opitz sie jetzt fühlte, hätte er sofort Catcher einer Baseball-Mannschaft werden können, ohne einen Fanghandschuh anzuziehen. Er lag still. Gott, das Schicksal oder seine eigene Körperchemie hatten Nachsicht mit ihm. Eine Hand auf seinem Glied, die andere, riesenhafte mit der Innenseite nach oben auf dem leeren Bett neben sich ausgestreckt, schlief er noch einmal ein.
Zeigefinger
Als er zum zweiten Mal an diesem Tag erwachte, fühlte er sich deutlich besser. Der Schmerz im Arm war verschwunden und kehrte auch bei den ersten vorsichtigen Bewegungen nicht zurück. Obwohl er nur anderthalb Stunden geschlafen hatte, fühlte er sich erfrischt wie nach einer zusätzlichen Nacht. Endlich duschte er und putzte sich die Zähne. Sorgfältig rasierte er sich. Beim Anblick seines frisch enthaarten Gesichts fiel ihm ein, dass er Anna versprochen hatte, Jim etwas zu essen zu geben. Versprochen war zu viel gesagt. Es gab eine Art grundlegenden Sorge-Vertrag zwischen den beiden. Wenn der eine das Haus verließ, übernahm der andere automatisch die Verantwortung für den Betrieb. Anna verreiste häufig für ein paar Tage, um neuen Besitzern alter Häuser bei der Einrichtung oder Einstimmung, wie sie das nannte, zu helfen. Sie wollte Gebäude immer erst kennenlernen, sie seufzen und lachen hören, bevor sie die Eigentümerberiet. Opitz goss dann die Blumen und erntete, was im Gemüsegarten reif wurde. Um die Außenanlagen auf dem riesigen Grundstück konnte er sich freilich nicht kümmern. Dafür bestellte Anna einen Gärtner, wenn sie länger als drei Tage wegfuhr. Beim letzten Mal war der Mann aus Angst vor Jim nicht gekommen – zu Recht, fand Opitz.
Orang-Utans wirkten friedlich und bedächtig. Ihre Haare waren bis zu fünfzig Zentimeter lang und rötlich braun, im Sonnenlicht leuchteten sie orange. Orange Utan. Opitz freute sich an seinem Wortspiel. Die Tiere bewegten sich langsam und wurden angeblich nur selten aggressiv. Allerdings bissen sie sich
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